Wie sozial soll die EU noch sein?

Freizügigkeit und Sozialleistungen nach dem Brexit-Deal

Handlungsempfehlungen

  1. Auswirkungen des Brexit-Deals möglichst auf Großbritannien begrenzen und befristen
  2. Familienbeihilfe nicht an Lebenshaltungskosten im EU-Ausland anpassen
  3. Keine Zwei- bzw. Drei-Klassen-Gesellschaft von Unionsbürgern zulassen

Zusammenfassung

Bei den Brexit-Verhandlungen auf dem EU-Gipfel im Februar 2016 standen die sozialen Rechte von Unionsbürgern im Zentrum. Der britische Premier David Cameron bestand auf einem eingeschränkten Zugang von EU-Migranten zu Sozialleistungen und er hat beträchtliche Zugeständnisse erhalten. Wie soll sich Österreich nun auf EU-Ebene verhalten? Und welche Implikationen haben die Verhandlungen für die sozialen Rechte von Unionsbürgern auf österreichischer Ebene?
Die Mitgliedstaaten haben bereits genug Möglichkeiten, Sozialleistungen für EU-Migranten einzuschränken und Missbrauch zu verhindern. Weder auf EU-Ebene noch auf österreichischer Ebene sind daher Änderungen notwendig. Vielmehr sollte einer Aufweichung des Gleichstellungsgebots in der EU entgegen gewirkt werden.

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Wie sozial soll die EU noch sein?

Freizügigkeit und Sozialleistungen nach dem Brexit-Deal

“Zuwanderung in die Sozialsysteme“?

Freizügigkeit in Europa einerseits, nationale Sozialsysteme andererseits stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis. Nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen EU-Mitgliedstaaten werden die sozialen Rechte von Unionsbürgern[1] daher kontrovers diskutiert. In Großbritannien hat die Debatte besonders früh begonnen, nachdem der britische Arbeitsmarkt bereits 2004 ohne Übergangsregelung für Zuwanderer aus den EU-Beitrittsländern geöffnet wurde und damit potenziell auch der Zugang zu einer Vielzahl beitragsunabhängiger Sozialleistungen (Ruhs, 2015). Spätestens seitdem Staatsangehörige aus Rumänien und Bulgarien uneingeschränkte Freizügigkeit in allen Mitgliedstaaten der EU genießen, fallen regelmäßig Begriffe wie „Sozialtourismus“ oder „Armutsmigration“. Dabei sehen sich vor allem Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie in die alten Mitgliedstaaten kommen würden, um von deren Wohlfahrtssystemen zu profitieren.[2] Den Diskurs über „Sozialtourismus“, welcher häufig von populistischen Parteien und Boulevardmedien geschürt wird, gilt es ernst zu nehmen, jedoch im Lichte der Fakten zu beurteilen. Was stellen wir demnach fest, wenn wir uns die Zahlen für Österreich ansehen? Zeigen sie eine tatsächliche „Zuwanderung in die Sozialsysteme“?

Den Diskurs über „Sozialtourismus“, welcher häufig von populistischen Parteien und Boulevardmedien geschürt wird, gilt es ernst zu nehmen, jedoch im Lichte der Fakten zu beurteilen.

Betrachtet man beispielsweise die Anzahl der EU-Migranten, welche im Bundesland Wien[3] die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS, vor 2010 Sozialhilfe) beziehen, wird Folgendes ersichtlich (vgl. Abbildung 1): Wie auch die Anzahl der Österreicher, welche die Grundsicherung beziehen, steigt diejenige der EU-Migranten an (2004: ca. 1.900 EU-Bezieher; 2014: ca. 13.100 EU-Bezieher). Auch wenn die Tendenz leicht steigend ist, so machen EU-Migranten weiterhin einen geringen Anteil an den Gesamtbeziehern der Grundsicherung aus (2014: 8,2 % EU-Migranten zu 61,7 % Österreichern; gegenüber zu 2,6 % EU-Migranten und 78,5 % Österreichern im Jahr 2004), wie auch der Wiener Sozialbericht 2015 feststellt (Stadt Wien. Magistratsabteilung 24 – Gesundheits- und Sozialplanung, 2015: 141). Auch der Anteil, den EU-Migranten am Gesamtaufwand ausmachen, bewegt sich in dieser Größenordnung (2014: 7,6 %). Und nicht zuletzt stellen sie im Vergleich zur Gesamtanzahl der EU-Migranten, die in Wien wohnen, einen geringen Anteil (2014: 7,2 %; im Vergleich dazu: Anteil der österreichischen BMS-Beziehenden an der Gesamtzahl der Österreicher, die in Wien wohnen: 7,4 %) und zur Gesamteinwohnerzahl in Wien einen sehr geringen Anteil (0,7 %) dar.[4]

Abbildung 1: Bundesland Wien: Anzahl der EU-Migranten und Österreicher, die Sozialhilfe/BMS beziehen (Quelle: MA 40)

Der allgemeine Trend der Zunahme an Leistungsbeziehern ist teils auf steigende Arbeitslosigkeit und zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen, teils auch gerade auf die Einführung der Mindestsicherung 2010, durch die seitdem u.a. aufgrund der höheren Mindeststandards mehr Personen von der Grundsicherung erfasst werden. EU-Migranten (EU-Beitritt nach 2004) sind dabei hauptsächlich sogenannte Aufstocker (85 %). Sie verfügen häufiger als die österreichischen Bezieher über ein Einkommen, welches schließlich durch die BMS aufgestockt wird (Stadt Wien. Magistratsabteilung 24 – Gesundheits- und Sozialplanung, 2015: 96ff., 142).
Wirft man einen Blick auf die Zahlen zur Ausgleichszulage, zeigt sich ein ähnliches Bild: Auch hier machen EU-Migranten einen geringen Anteil aus (Dezember 2014: 3,5 %) (vgl. Abbildung 2). Ein massiver Zuzug in die Sozialsysteme findet demnach nicht statt. Dass die sozialen Rechte von Unionsbürgern dennoch gerade neu verhandelt werden, wird im Folgenden beleuchtet.

Abbildung 2: Anzahl der EU-Migranten und Österreicher, die die Ausgleichszulage beziehen (Quelle: PVA[5])

Freizügigkeit als Grundpfeiler der EU

Auf dem EU-Gipfel am 18./19. Februar 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten auf weitgehende Zugeständnisse an Großbritannien im Bereich der Sozialleistungen. Um Großbritannien in der EU zu halten, soll unter anderem die Möglichkeit einer „Notbremse“ eingeführt werden: „Maßnahmen zur Begrenzung von Arbeitnehmerströmen (…), wenn diese ein derartiges Ausmaß annehmen, dass sie negative Auswirkungen sowohl für die Herkunftsmitgliedstaaten als auch für die Bestimmungsmitgliedstaaten haben“ (Generalsekretariat des Rates, 2016: 19). Dabei könnte ein derartig „von Arbeitnehmerströmen“ betroffener Mitgliedstaat neu hinzukommenden EU-Migranten Lohnergänzungsleistungen, die nicht durch Beiträge finanziert werden, bis zu vier Jahre vorenthalten (Generalsekretariat des Rates, 2016: 23).
Die Briten werden am 23. Juni 2016 über den Verbleib in der EU abstimmen. Wenngleich eine Reform auf EU-Ebene bis dahin ohnehin unrealistisch ist, gilt es dennoch, nicht überstürzt zu handeln. Diese Strategie verfolgt derzeit auch die Europäische Kommission, die ein lange angekündigtes Maßnahmenpaket zur Arbeitnehmerfreizügigkeit erst nach dem britischen Referendum vorstellen möchte. Öffentliche Konsultationen, die unter anderen Familienleistungen und Arbeitslosenunterstützung betrafen, hatte die Kommission bereits im Herbst 2015 durchgeführt – seither aber nicht veröffentlicht, weil zunächst die Brexit-Verhandlungen und nun das britische Referendum abgewartet werden.[6] Letztlich wird es um mögliche Änderungen zweier EU-Gesetze gehen: Die Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit regelt beispielsweise, welches Land für Wanderarbeitnehmer zuständig ist. Die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38 legt die Bedingungen fest, unter welchen sich EU-Bürger in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten dürfen. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht ist wiederum Voraussetzung für eine Gleichbehandlung hinsichtlich sozialer Rechte mit Inländern.
Selbst wenn nicht die europäischen Verträge, sondern „nur“ Sekundärrecht geändert würde, könnte eine umfassende Reform dieser beiden Gesetze einen bedeutenden Einschnitt darstellen: Sie würde den Kerngedanken der europäischen Freizügigkeit betreffen und eine Aufweichung jahrzehntelang entwickelter Gleichbehandlungsrechte signalisieren.

Falls sich die Briten letztlich gegen den Verbleib in der EU entscheiden, sollten die Reformpläne daher verworfen werden.

Falls sich die Briten letztlich gegen den Verbleib in der EU entscheiden, sollten die Reformpläne daher verworfen werden. Allerdings ist davor zu warnen, dass zumindest Teile des Verhandlungsergebnisses auch dann weiter vorangetrieben werden könnten, wenn Großbritannien aus der EU ausscheidet. Andere Länder könnten auf den Zug aufspringen und weiterhin Einschränkungen beim Sozialleistungsbezug auf EU-Ebene fordern. Beispielsweise in Deutschland und Österreich werden die Forderungen Camerons teilweise begrüßt (vgl. in Deutschland: Klausurtagung der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth vom 6. bis 8. Januar 2016 (Straubinger, 2016); in Österreich: Parlamentskorrespondenz Nr. 130 vom 17.02.2016). Einer dieser Punkte betrifft die Familienbeihilfe: Laut EU-Gipfel könnten alle Mitgliedstaaten künftig die Möglichkeit erhalten, Leistungen für im Ausland lebende Kinder an die dortigen Lebenshaltungskosten anzupassen. Doch wie sinnvoll wäre eine derartige Reform?

Einsparungen durch eine Indexierung der Familienbeihilfe?

Die Idee, Familienbeihilfe beim Export ins Ausland an die jeweiligen Lebenshaltungskosten anzupassen, ist in Österreich nicht neu. Bereits 2010 wurde ein derartiger Vorschlag von Reinhold Lopatka, damals Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen, unterbreitet (Lopatka, 2010; 1224/A(E) XXV. GP – Entschließungsantrag). Im vergangenen Jahr wurde er unter anderem auch von Außenminister Kurz aufgegriffen (Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres 2015). Nach dem Brexit-Deal wird dieser Vorschlag nun auch im Familienministerium geprüft (APA, 2016).
Grundsätzlich ist anzumerken, dass sich bei diesem Thema zwei Blöcke mit unterschiedlichen Argumenten gegenüberstehen und weitgehend aneinander vorbei reden: Insbesondere Heimatländer der Wanderarbeitnehmer verweisen auf die Finanzierung der Leistungen und argumentieren, dass gleiche Steuern bzw. Beiträge auch gleiche Leistungen bedeuten sollten. Empfängerländer der Wanderarbeitnehmer hingegen verweisen auf den Zweck der Familienleistungen, nämlich die Zusatzkosten durch Kinder zu kompensieren, die sich schließlich je nach Wohnort unterscheiden. Sutter und Lenneis verweisen hier auf die unterschiedlichen Warenkörbe, welche Familien je nach Wohnort zustehen (Sutter & Lenneis, 2011).
Während ein österreichischer Alleingang derzeit nicht zur Debatte steht und in jedem Fall europarechtliche Probleme aufwerfen würde, ist unter Experten auch umstritten, ob eine europäische Einigung auf eine Indexierung der Familienbeihilfe letztlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestätigt würde (s. Diskussion dazu in Stöger, 2016). Bei einem Verbleib Großbritanniens in der EU wäre wohl zu erwarten, dass der Gerichtshof dem politischen Kompromiss der Mitgliedstaaten in diesem Punkt folgt. Aber selbst wenn eine EU-weite Regelung als nicht diskriminierend und somit im Einklang mit den europäischen Verträgen bewertet wird, stehen ihr gewichtige Argumente entgegen.
Erstens hätte eine derartige Reform eine politische Signalwirkung gegen ein offenes und sozialeres Europa, würde sie doch insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten als eine Aufweichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wahrgenommen. Dass diese Einschätzung nicht ganz unbegründet ist, zeigt sich auch an einem Nebenaspekt der Debatte: Eine Indexierung von Familienleistungen, die auch innerstaatliche Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten berücksichtigt, scheint kein Thema zu sein. Wenn es aber in erster Linie um eine angemessene Kompensation für die Zusatzkosten durch Kinder ginge, wäre es nur konsequent, auch Unterschiede etwa zwischen Wien und dem Burgenland oder in Großbritannien zwischen der walisischen Provinz und der City of London zu berücksichtigen.

Würde man die Familienbeihilfe an die Lebenshaltungskosten anpassen, würde man zwar manche Kosten einsparen. Doch gleichzeitig würde eine Reform auch zusätzliche Kosten verursachen.

Zweitens erscheint der Einspareffekt einer derartigen Reform bei genauerer Betrachtung fraglich. Wie aus der Beantwortung (5630/AB) durch Bundesfinanzminister Schelling zur Anfrage von Edith Mühlberghuber (FPÖ) und weiteren Abgeordneten (5807/J) hervorgeht, wurden im Jahr 2014 rund 223 Millionen Euro Familienbeihilfe an über 24.000 Kinder ins EU-Ausland exportiert. Dies stellt bei einem Gesamtaufwand von über 3 Milliarden Euro ohnehin einen geringen Anteil dar (7,1 %).[7] Würde man die Familienbeihilfe an die Lebenshaltungskosten anpassen, würde man zwar manche Kosten einsparen, etwa durch eine niedrigere Auszahlung für in der Slowakei lebende Kinder. Doch gleichzeitig würde eine Reform auch zusätzliche Kosten verursachen: Zum einen müsste Personen, deren Kinder beispielsweise in Deutschland oder in skandinavischen Ländern leben, womöglich ein höherer Satz ausbezahlt werden. Eine Deckelung der Familienbeihilfe auf österreichischem Niveau würde jedenfalls dem Argument widersprechen, es ginge primär um die Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenshaltungskosten. Zum anderen ist der Verwaltungsaufwand, der durch die Reform entstehen würde, nicht zu unterschätzen. So müsste verstärkt herausgefunden und überprüft werden, wo Kinder tatsächlich wohnen. Dies ist selbst bei Kindern, welche zur Schule gehen, nicht immer offensichtlich; bei jüngeren Kindern entstünde aber eine enorme Zusatzbelastung für die Behörden.
Und drittens könnte die Reform einen unbeabsichtigten Lenkungseffekt bewirken – nämlich dann, wenn Unionsbürger aus ärmeren Staaten ihre Kinder nach Österreich (nach)holen, was nicht nur die erhofften Einsparungen senken, sondern sogar Zusatzkosten etwa in der Bildung verursachen würde. Auch wenn ein solcher Effekt durchaus im Sinne der Kinder und Familien wäre, bleibt somit äußerst fraglich, ob die Reform überhaupt den proklamierten Zweck erfüllen würde – sowohl was die finanziellen Einsparungen als auch die Folgen für die Verwaltung betrifft. Sie wäre daher vorwiegend symbolpolitisch zu verstehen, wobei auch die Symbolwirkung nach außen eine negative ist.

Österreichs Spielraum beim Zugang zu Sozialleistungen

Welche weiteren Schlüsse soll Österreich beim Zugang zu Sozialleistungen ziehen? Ergibt sich neben den Brexit-Verhandlungen möglicherweise Reformbedarf aus der jüngeren Judikatur des EuGH?
Im Gegenteil – gerade im vergangenen Jahr hat der EuGH die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, den Zugang zu Sozialleistungen zu beschränken – und damit auch indirekt die geltende österreichische Rechtslage – klar bestätigt. Umstritten war in einer Reihe von Fällen – Dano (C-333/13), Alimanovic (C-67/14) und Garcia-Nieto (C-299/14) – ob Deutschland arbeitssuchende und wirtschaftlich inaktive Unionsbürger generell, also ohne Einzelfallprüfung, von Grundsicherungsleistungen („Hartz IV“) ausschließen kann. Ein Knackpunkt der Verfahren: Der EuGH hatte zu beurteilen, ob die deutsche Grundsicherung als Sozialhilfe einzustufen ist oder als Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. In letzterem Fall hätten arbeitssuchende EU-Migranten unter Umständen Ansprüche erheben können. Der Gerichtshof bestätigte aber die deutsche Position, wonach Hartz IV (vorwiegend) als Sozialhilfe einzustufen ist und zudem – entgegen früherer Urteile (Brey, C-140/12) – auch ohne Einzelfallprüfung bestimmten Personengruppen verweigert werden darf. Damit ist indirekt auch die österreichische Rechtslage geklärt, wonach die Bedarfsorientierte Mindestsicherung ebenfalls als Sozialhilfe einzustufen ist und Unionsbürgern ohne Arbeit und ohne rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich verweigert werden darf. Dass nicht erwerbstätige EU-Bürger nach Österreich kommen könnten, um sofort Sozialleistungen zu erhalten, ist somit rechtlich ausgeschlossen und daher ein Mythos.
[zitat inhalt=”Dass nicht erwerbstätige EU-Bürger nach Österreich kommen könnten, um sofort Sozialleistungen zu erhalten, ist somit rechtlich ausgeschlossen und daher ein Mythos.”]
In der Praxis wird der Zugang von EU-Migranten zur BMS trotzdem sehr uneinheitlich gehandhabt, was jedoch nicht an zu wenig restriktiven Gesetzen, sondern an unterschiedlichen Herangehensweisen der Verwaltungen liegt. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Anmeldebescheinigung. Formal gesehen hat die Anmeldebescheinigung rein deklaratorischen Charakter, d.h. sie begründet kein Aufenthaltsrecht, sondern dokumentiert lediglich, dass dieses Recht bei der Ausstellung der Bescheinigung besteht. Erst recht begründet die Anmeldebescheinigung keinen Anspruch auf Sozialleistungen.[8] Faktisch wird die Anmeldebescheinigung aber vielerorts als konstitutiv behandelt, d.h. wer sie einmal erhalten hat, beispielsweise durch Nachweis einer dreimonatigen Beschäftigung, dem dient sie als dauerhafter Beleg seines (vermeintlich) rechtmäßigen Aufenthalts und damit mitunter auch als Grundlage für den Bezug der BMS. Dass mit dem Bezug der BMS womöglich die Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts (etwa „ausreichende Existenzmittel“) entfallen sind, wird zwischen Sozial- und Fremdenbehörden zwar teilweise kommuniziert, bleibt aber in der Regel folgenlos: Die Anmeldebescheinigung „gilt“ faktisch weiter.

Faktisch wird die Anmeldebescheinigung aber vielerorts als konstitutiv behandelt, d.h. wer sie einmal erhalten hat, dem dient sie als dauerhafter Beleg seines (vermeintlich) rechtmäßigen Aufenthalts.

Eine Aufenthaltsbeendigung von EU-Migranten als Folge von Sozialleistungsbezug kommt in der Praxis nicht vor. Das gleiche gilt auch für den umgekehrten Fall: EU-Migranten, die keine Anmeldebescheinigung erhalten und somit auch keine Aussicht auf Mindestsicherung haben, werden faktisch im Land „geduldet“. In Deutschland hat das Bundessozialgericht die Politik jüngst dazu gezwungen, sich mit dem prekären Status solcher EU-Migranten zu befassen. In seinem Urteil monierte das Gericht ein „Vollzugsdefizit des Ausländerrechts“ und forderte vor diesem Hintergrund die staatliche „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“.[9] Wie die deutsche Politik letztlich reagieren wird, ist noch offen. In jedem Fall sollten sich politische Entscheidungsträger dieser Gruppe von EU-Migranten bewusst werden.

Resümee: Gefahr einer Zwei- oder Drei-Klassen-Gesellschaft von EU-Bürgern

Abschließend gilt noch einmal zu betonen, dass sich die öffentliche Sorge über eine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ nur sehr bedingt in den verfügbaren Zahlen widerspiegelt. Die EU-Mitgliedstaaten verfügen weiterhin über ausreichende Möglichkeiten, den Zugang von EU-Migranten zu ihren Sozialsystemen zu regulieren. Der Brexit-Deal schießt aber über dieses Ziel hinaus und könnte über Jahrzehnte etablierte Gleichbehandlungsrechte von Wanderarbeitern unterminieren, etwa durch die „Notbremse“ bei Lohnergänzungs- oder die Indexierung von Familienleistungen. Hinzu kommt die Gefahr eines wachsenden Prekariats von faktisch geduldeten EU-Migranten ohne rechtmäßigen Aufenthalt und ohne soziale Absicherung.

[1] Zur besseren Lesbarkeit wird in unserem Policy Brief das generische Maskulinum verwendet, z.B. „Bürger“ statt „Bürger_innen“.
[2] Diese sogenannte „Wohlfahrts-Magnet“-Hypothese wird insbesondere unter Ökonomen breit diskutiert, findet dort aber nur wenig faktische Unterstützung. Pedersen et al. finden heraus, dass das Pro-Kopf-Einkommen, Arbeitslosenquoten und soziale Verbindungen Migration stark beeinflussen, während Wohlfahrt nur einen marginalen Einfluss hat (Pedersen, Pytlikova, & Smith, 2008). Zudem finden beispielsweise Dustmann und Frattini in ihrer Studie zum UK heraus, dass Intra-EU-Migranten mehr zum Finanzsystem beisteuern als sie in Leistungen und Transfers bekommen (Dustmann & Frattini, 2013); eine Studie des European Citizen Action Service zeigt, dass EU-Migranten auch in Österreich Nettozahler sind, d. h. dass ihr finanzieller Beitrag höher ist als der Betrag, den sie an Sozialleistungen erhalten (European Citizen Action Service, 2014).
[3] Daten zur Staatsangehörigkeit der Bezieher der Grundsicherung liegen – wenn überhaupt – nur landesspezifisch vor. Wien bietet sich als Beispiel an, da es das Bundesland Österreichs mit der höchsten Einwohnerzahl insgesamt ist. Zudem ist es im österreichischen Vergleich das Bundesland mit der höchsten Anzahl an EU-Migranten und auch dem höchsten Anteil an EU-Migranten an der Gesamtbevölkerung (STATISTIK AUSTRIA).
[4] Eigene Berechnung; Daten: MA 40; STATISTIK AUSTRIA.
[5] Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit von Ausgleichzulage-Beziehern liegen erst ab 2010 Zahlen vor.
[6] http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=333&langId=de&consultId=16&visib=0&furtherConsult=yes
[7] Eigene Berechnung; Daten: 5630/AB; STATISTIK AUSTRIA.
[8] Verzwickt ist die Situation aus Sicht der PVA bei der Ausgleichszulage. Der Bezug der Ausgleichszulage setzt einen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Hat ein Antragsteller aber erst einmal eine Anmeldebescheinigung erhalten, darf die PVA laut Rechtsprechung des OGH in der Sache Brey das Aufenthaltsrecht aber nicht selbst überprüfen, sondern muss einen Widerruf der Anmeldebescheinigung durch die Fremdenbehörde erwirken.
[9] Deutsches Bundessozialgericht, Urteil vom 3.12.2015, B 4 AS 44/15 R.

  • APA. (2016). Familienbeihilfe: Karmasin will EU-Beschlüsse umsetzen. Der Standard vom 21. Februar 2016.
    Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (2015). Sozialmissbrauch – Kurz setzt seine Kampagne fort. Verfügbar unter: http://www.bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aussendungen/2015/06/sozialmissbrauch-kurz-setzt-seine-kampagne-fort/.
  • Dustmann, C., & Frattini, T. (2013). The Fiscal Effects of Immigration to the UK. London: University College.
  • European Citizen Action Service. (2014). Fiscal Impact of EU Migrants in Austria, Germany, the Netherlands and the UK. Brüssel: European Citizen Action Service.
    Generalsekretariat des Rates. (2016). Tagung des Europäischen Rates (18. und 19. Februar 2016) – Schlussfolgerungen. Verfügbar unter: http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/02/19-euco-conclusions/.
  • Lopatka, R. (2010). 6. Mai 2010: Mehr Gerechtigkeit bei Familienbeihilfe. Verfügbar unter: http://www.lopatka.at/2010/05/06/6-mai-2010-mehr-gerechtigkeit-bei-familienbeihilfe/.
  • Pedersen, P. J., Pytlikova, M., & Smith, N. (2008). Selection and Network Effects – Migration Flows into OECD Countries 1990-2000. European Economic Review, 52(7), 1160-1186.
  • Ruhs, M. (2015). Is Unrestricted Immigration Compatible With Inclusive Welfare States? The (Un)Sustainability of EU Exceptionalism. Centre on Migration, Policy and Society, Working Paper No. 125.
  • Stadt Wien. Magistratsabteilung 24 – Gesundheits- und Sozialplanung. (2015). Wiener Sozialbericht 2015. Geschäftsgruppe Gesundheit und Soziales. Wien: Stadt Wien.
  • Stöger, A. (2016). Unionsrechtliche Aspekte des Anspruchs auf Familienbeihilfe. Wien: ÖGB Verlag.
  • Straubinger, M. (Ed.) (2016). Freizügigkeit schützen – Armutsmigration verhindern. Verfügbar unter: https://www.csu-landesgruppe.de/sites/default/files/2016-01-08_freizuegigkeit_schuetzen_-_armutsmigration_verhindern.pdf.
  • Sutter, F. P., & Lenneis, C. (2011). Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten bei der Bemessung der Familienbeihilfe. Österreichische Steuerzeitung, 318(8), 203-206.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autoren arbeiten, überein.
Schlagworte
Freizügigkeit, Wohlfahrtsstaat, EuGH, Brexit, “Sozialtourismus”, Sozialleistungen
Zitation
Heindlmaier, A., Blauberger, M. (2016). Wie sozial soll die EU noch sein? Freizügigkeit und Sozialleistungen nach dem Brexit-DealWien. ÖGfE Policy Brief, 12’2016
Hinweis
Dieser Policy Brief ist auszugsweise auch auf EurActiv erschienen.

Anita Heindlmaier

Anita Heindlmaier promoviert am Salzburg Centre of European Union Studies, Universität Salzburg, zu Freizügigkeit in der EU und zu Sozialleistungen in Österreich, Deutschland und Frankreich. Sie ist Mitarbeiterin im internationalen Projekt "TransJudFare - Transnationalization and the Judicialization of Welfare" und hat zuvor Politikwissenschaft an der LMU München studiert.

Michael Blauberger

Michael Blauberger ist assoziierter Professor für Europäische Politik und Politische Theorie an der Universität Salzburg. Er leitet das Salzburger Teilprojekt des internationalen Projekts "TransJudFare - Transnationalization and the Judicialization of Welfare".