Wie ein starkes Europa mehr nationalen Spielraum schaffen könnte

Handlungsempfehlungen

  1. Lebensstandards können steigen, wenn die Extremmodelle egoistischer Alleingänge und des Zentralismus vermieden werden und neue Koordinationsaufgaben so gestaltet werden, dass sie den nationalen Handlungsspielraum nicht einengen sondern vergrößern.
  2. Internationale Lösungen sind vorteilhaft, wenn Probleme und Chancen über nationale Grenzen hinauswirken, wo Vorteile sichtbar sind und an der Verbesserung der Lebensbedingungen gemessen werden können.
  3. Dezentrale Lösungen sind vorteilhaft, wenn der genaue Lösungsweg unbekannt oder die Präferenzen unterschiedlich sind. Internationale Koordination kann einen größeren nationalen Spielraum öffnen als Protektionismus, Abschottung und Errichtung von Zäunen.

Zusammenfassung

Herausforderungen wie Steuerflucht, Migration und Klimawandel können nur international gemeistert werden. Die einzige Chance für einzelne Staaten und insbesondere kleinere Länder, in diesen Themen mitzubestimmen, ist eine koordinierte europäische Politik. Sind gemeinsame Lösungen aber intransparent erarbeitet, schlecht kommuniziert oder zu detailliert, werden sie als „Diktat aus Brüssel“ abgelehnt und die Rückkehr zu nationaler Verantwortung gefordert. Im Extremfall kann dies den Austritt aus der EU bedeuten. Diese „Notbremsung“ trägt jedoch nicht zur Lösung der Probleme bei, sondern reduziert nationale Optionen weiter.
Die Lösung des Dilemmas liegt darin, europaweite Bestimmungen so zu gestalten, dass sie den nationalen Spielraum sogar erweitern können. Innovative, problemangepasste Lösungen können dann nach nationalen Prioritäten entwickelt werden, weil internationale Beschränkungen und Versickerungseffekte wegfallen. Wie das funktionieren kann, wird anhand konkreter Vorschläge für das Steuersystem, die Konjunkturpolitik, den Klimawandel und die Globalisierung analysiert. Best Practice Beispiele einer europäischen Politik, die den nationalen Spielraum erhöht, gibt es in der Regional- und der Forschungspolitik. Für die globale Politik kann das Klimaabkommen von Paris als vorbildlich gelten, weil es gemeinsame Ziele und Verpflichtungen mit nationalen Lösungen und Initiativen verbindet. Aus diesen drei erfolgreichen Politikbereichen werden Prinzipien zur Überwindung des heute dominierenden Widerspruchs zwischen der Notwendigkeit gemeinsamer Regeln und dem Wunsch nach bürgernaher Mitwirkung und dezentralen Lösungen abgeleitet. Abschließend werden Umsetzungsbedingungen für den neuen Lösungsansatz präsentiert, darunter eine Vision für ein dynamisches Europa und ein zukunftsweisendes neues Narrativ.

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Wie ein starkes Europa mehr nationalen Spielraum schaffen könnte

Die Ausgangslage

Die Menschen in Europa erwarten ein besseres Leben, doch die Rahmenbedingungen dafür werden schwieriger: Der Klimawandel, politische und wirtschaftliche Instabilitäten, Migrationsströme und neue Technologien gefährden die Wohlfahrt oder tragen zumindest zu steigender Unsicherheit bei. Diese Probleme könnten durch Zusammenarbeit – global und innerhalb der EU – besser bewältigt werden. Eine stärkere gemeinschaftliche Politik kann Arbeitslosigkeit und Ungleichheit reduzieren und Europa eine Führungsrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels verschaffen.
Allerdings steigt das Misstrauen sowohl gegenüber der als zentralistisch wahrgenommenen europäischen Politik, als auch gegenüber der Globalisierung, die als beängstigend und fremdbestimmt empfunden wird. Positive Trends, wie der weltweite Rückgang von absoluter Armut und der Säuglingssterblichkeit oder die steigende Lebenserwartung, werden nicht als Erfolge koordinierter Politik gesehen. Umgekehrt werden europäische Regulierungen, die in nationale oder nur partikulare Interessen Einzelner eingreifen und etwaige negative Aspekte, sehr wohl als Folge internationaler Politik wahrgenommen (und die negativen Aspekte übertrieben).

Lösungsprinzipien

Eine europäische Politik, die erfolgreich sein will, muss erstens sichtbar zur Lösung vorrangiger Probleme wie Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Klimawandel beitragen. Sie muss sich zweitens auf Fragen konzentrieren, die gemeinsam und aufeinander abgestimmt besser gelöst werden können und die unmittelbar Lebensbedingungen betreffen. Und sie soll drittens so konzipiert werden, dass sie den nationalen Spielraum für technische, soziale und ökologische Innovationen ausweitet.
Dieser Policy Brief zeigt anhand von vier Politikbereichen, wie gezielte europäische Rahmenrichtlinien den nationalen Spielraum ausweiten könnten. Die dabei genutzten Prinzipien können auf weitere Themen von Sicherheitspolitik bis Migration angewandt werden. Best Practice Beispiele, wo heute schon europäische Impulse dominieren, die regionale Initiativen und Präferenzen unterstützen oder sogar erst ermöglichen, liefern die Forschungs- und Bildungspolitik sowie die Regionalpolitik. Auch das Pariser Klimaabkommen kombiniert intelligent gemeinsame – in diesem Fall sogar globale – Ziele mit dezentraler Umsetzung.

Reformvorschläge für vier Politikbereiche

Eckpfeiler für nationale Steuersysteme

Die Mitgliedsländer sollten weiter über das Steuersystem, die Abgabenhöhe und ihre Struktur bestimmen. Europäische Regelungen sollten jedoch einen Rahmen setzen, in dem jedes Mitgliedsland sein Steuersystem stärker nach den ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen orientieren kann. So können Umgehungs- und Umlenkungseffekte (unversteuerte Importe, Tanktourismus, steuermotivierte Verlagerung des Headquarters) vermieden werden. Ein Pfeiler für diese bessere Gestaltung der nationalen Steuersysteme wären europaweite Mindesttarife oder Bandbreiten für Umsatz-, Emissions- und Kapitalertragssteuern. Bei bestimmten Steuerarten sollte darüber hinaus in allen Ländern die gleiche Bemessungsgrundlage gelten. Ein zweiter Pfeiler wären Verbote von oder zumindest Transparenz für Vereinbarungen, die Steuerpflicht einzelner Unternehmen verringern. Ein dritter Pfeiler wäre ein „country by country reporting“ von Aktivitäten, das die Verlagerung der Abgabenpflicht in Steueroasen zu vermeiden hilft.

Europäische Regelungen sollten einen Rahmen setzen, in dem jedes Mitgliedsland sein Steuersystem stärker nach den ökonomischen, sozialen und ökologischen Zielen orientieren kann.

Heute wird der Faktor Arbeit am höchsten besteuert (Schratzenstaller 2015), obwohl dies die Arbeitslosigkeit erhöht. Große Vermögen und Erbschaften sind hingegen steuerbefreit, weil sie in Steueroasen verlegt werden können. Aktuell besteuern Mitgliedsländer Tätigkeiten, die Folgekosten bei Gesundheit und Umwelt erzeugen, sehr gering, da sie ihr Abgabensystem an der Verlagerungsgefahr und nicht an gesellschaftlichen Prioritäten orientieren.

Prinzipien für eine innovative Klimapolitik

Europa hat sich zum Ausstieg aus der fossilen Energie bis 2050 (UN-Klimakonferenz in Paris 2015) verpflichtet und könnte dieses Ziel dazu nutzen, Technologieführer bei Energieeffizienz und alternativen Energien zu werden. Die Politik der Mitgliedsländer wird aber von den bestehenden Energieanbietern, konventionellen Technologien und vorhandener Infrastruktur bestimmt.

Jedes Mitgliedsland könnte in jenen Bereichen innovativ sein, in denen es die größten Chancen sieht.

Eine Wiederbelebung des europäischen Emissionshandels, eine Koordination der Stromnetze und ein Subventionsverbot für fossile Energie und neue Atomkraftwerke hätten eine Reihe positiver Folgen. So würden etwa die Entwicklung alternativer Energie, neuer Antriebssysteme und Baumethoden, sowie eine neue Raum- und Städteplanung ermöglicht. Jedes Mitgliedsland könnte in jenen Bereichen innovativ sein, in denen es die größten Chancen sieht. Da Innovation ein Entdeckungsprozess ist, sind bottom-up Ansätze bei gegebenen europäischen Rahmenbedingungen z.B. Mindeststeuern für Emissionen inkl. Luft- und Schifffahrt auch technologisch erfolgreicher. Das einzelne Mitgliedsland muss sich nicht im selben Ausmaß entscheiden, ob Elektroantriebe oder Wasserstoff fossile Treibstoffe besser ersetzen können.

Erfolgreiche Konjunkturpolitik durch europäische Koordination

Wenn ein kleines Mitgliedsland seine Investitionen erhöht, steigt die Inlandsnachfrage nur wenig, weil Staatsausgaben zum Teil zu Aufträgen in den Nachbarländern führen. Eine antizyklische gebündelte Nachfragepolitik auf europäischer Ebene wäre wirksamer. Noch positiver wären die langfristigen Effekte, wenn die Ausgaben technologische Kapazitäten oder berufliche Skills betreffen, da dann die Defizite aus einer höheren Wirtschaftsleistung zurückgezahlt werden.
Derzeit erfolgt die Koordination über den Fiskalpakt, einen jährlichen Wachstumsbericht, das Europäische Semester und landesspezifische Empfehlungen. Diese Architektur scheiterte teilweise an den wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsländern. Europa konnte daher im Gegensatz zu den USA erst 2016 wieder das Produktionsniveau vor der Finanzkrise erreichen (Aiginger 2016). Gemeinsame Regeln, wann Defizite auszuweiten bzw. einzuschränken sind, würden auch die Arbeitslosigkeit senken. Eine zentrale Schuldenaufnahme europäischer Länder würde die Zinsen senken. Ein Schwerpunkt der Ausgaben auf die Verbesserung der Lebensbedingungen würde den Mitgliedsländern Dynamik, Arbeitsplätze und ökologische Überlegenheit bringen.

Innerhalb dieser Rahmenbedingungen – Konjunktursteuerung, niedrige Zinsen und Vorrang von immateriellen Investitionen – könnte jedes Land Abgaben senken oder Ausgaben erhöhen.

Innerhalb dieser Rahmenbedingungen – Konjunktursteuerung, niedrige Zinsen und Vorrang von immateriellen Investitionen – könnte jedes Land Abgaben senken oder Ausgaben erhöhen. Es könnte die Schuldenhöhe anhand der möglichen Erträge von Investitionen bzw. des Einsparungspotentials in der Verwaltung beurteilen. Heute ist die Konjunktur- und Wachstumspolitik der einzelnen Mitglieder durch hohe Zinssätze und die befürchteten Reaktionen der Finanzmärkte im Handlungsspielraum eingeschränkt und wird durch die wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Europäischen Kommission bestimmt, die auch politische Wertungen und Machtverhältnisse widerspiegelt. Sanktionen wegen zu hoher Defizite oder zu hoher Überschüsse können auch aus politischen Überlegungen und Kräfteverhältnissen nicht durchgesetzt werden.

Europäische Werte in der Globalisierung durchsetzen

Die Dynamik der neuen Industriestaaten verringert den Einfluss Europas in internationalen Gremien. Die größten Mitgliedsländer repräsentieren einzeln weniger als 5% der Weltwirtschaft, die kleineren Länder etwa ein Prozent. Die EU hingegen ist durch das Wachstum ihrer neuen Mitglieder der größte Wirtschaftsraum der Welt. Sie könnte europäische Präferenzen über internationale oder bilaterale Verträge durchsetzen. Historisch bedingte Regulierungen, die Märkte absichern und zu einem hohen Preisniveau führen, sollen abgebaut werden.

Nur eine gemeinsame europäische Politik kann Standards durchsetzen, die im europäischen Wertesystem begründet sind, oder generell den Präferenzen von Staaten mit hohen Einkommen entsprechen.

Nur eine gemeinsame europäische Politik kann Standards durchsetzen, die im europäischen Wertesystem begründet sind, oder generell den Präferenzen von Staaten mit hohen Einkommen entsprechen (Sozialleistungen, Umweltschutz, Mitspracherechte). Gesellschaftspolitisch begründete Standards sollten auch von Gerichten nicht beseitigt werden dürfen. Ihre weltweite Angleichung nach oben würde auch europäische Technologieexporte, sowie soziale und ökologische Innovationen stärken.
Die Verlierer der Globalisierung in den Industrieländern – gering qualifizierte Arbeitskräfte in einfachen Industriejobs – müssen rechtzeitig umgeschult werden. Innereuropäische Migration mag eine temporäre Erleichterung bringen, längerfristig sind aber höhere Qualifikationen notwendig. Europäische Initiativen in der Arbeitsmarktpolitik helfen (Lehrlingssysteme, lebenslanges Lernen), besonders wenn auch Experimente und soziale Innovationen unterstützt werden.
Europa kann internationale Abkommen für eine wohlfahrtsorientierte Globalisierung stärker nutzen als einzelne Mitgliedsländer. Vor Verhandlungsbeginn müssen Prioritäten definiert und von verzichtbaren Sonderregeln unterschieden werden. Innerhalb dieses Vertragstypus hat jedes Mitgliedsland die Möglichkeit von gesellschaftlichem Nutzen abgeleitete oder kulturell bedingte Prioritäten zu entwickeln, sofern sie nicht versteckte Handelshemmnisse sind. Verschließt sich Europa vor der Globalisierung, sinkt die Produktvielfalt und die Preise steigen besonders für den Warenkorb niedriger Einkommensbezieher.

Best Practice Beispiele

Regional- und Forschungspolitik sind Bereiche, in denen durch die europäische Wirtschaftspolitik mehr Mittel verfügbar sind, als es in den nationalen Budgets der Fall wäre. Die europäische Politik erhöht auch die Effizienz und Professionalität des Mitteleinsatzes. Sie ermöglicht es drittens, schwächeren Regionen aufzuschließen (z.B. beim BIP pro Kopf). Die europäische Politik beseitigt damit Marktversagen, generiert öffentliche Güter (Forschungsraum, Mobilität, Sicherheit) und internalisiert externe Effekte.
Die Europäische Regionalpolitik löste das Problem, dass rein nationale Maßnahmen nicht genügend nach Regionen, Einkommen und gesellschaftlichen Gruppen (z.B. Minderheiten) differenziert waren. Außerdem liegen einkommensschwache Regionen meist in ärmeren Ländern, die nur über geringe Fördermittel verfügen. Die Regionalförderung und die Strukturfonds machen regionale Konzepte zur Voraussetzung der Mittelvergabe. Das stärkt das bottom-up Prinzip und regionale Potenziale und Identitäten werden sichtbar (z.B. Burgenland).
Die europäische Forschungspolitik schafft einen gemeinsamen Forschungsraum, der Mobilität und Exzellenz ermöglicht. Selbst wo es gesellschaftliche Schwerpunktprogramme oder „Key Technologies“ gibt, werden die Mittel nach dem Ausschreibungsprinzip vergeben; eine nationale Ko‑Finanzierung öffnet den Spielraum für regionale Prioritäten und Stärken. Die EU-2020 Strategie definiert Ziele zur Reduktion des Schulabbruches, der Forcierung vorschulischer Bildung und des Anteiles an akademischer Ausbildung. Alle Ziele können dann national adaptiert werden. Die OECD wird bei der Leistungsmessung im Bildungssystem (Pisa Rating) nach Gebieten und sozioökonomischer Herkunft unterstützt. Diese Informationen können dann zur Behebung nationaler Bildungsdefizite genutzt werden.
Der Klimavertrag Paris 2015 (COP21) ist ein Best Practice Beispiel auf globaler Ebene. Er setzt sehr ambitionierte Ziele (Klimaerwärmung unter 2 Grad, Verzicht auf größten Teil der Kohlenstoffnutzung). Der Vertrag wurde binnen eines Jahres von 195 Ländern unterschrieben, obwohl Ausgangssituation, Ressourcen und technische Möglichkeiten der Vertragspartner sehr unterschiedlich sind. Er ist ein diplomatisches Meisterwerk, weil er gemeinsame Ziele definiert, es aber den Ländern überlässt, wie sie das Ziel erreichen möchten. Wenn die ersten Vorschläge nicht ausreichen, was sich teilweise bereits herausgestellt hat, müssen die nationalen Programme nachgeschärft werden. Dieser Lösungsweg betont die nationale Verantwortung jedes Landes („ownership“), ermöglicht unterschiedlichste Schwerpunkte und Ansätze sowie das Lernen von den Besten. Dass die Summe der Anstrengungen dem Ziel entspricht und sich nicht jedes Land auf andere verlassen kann („free riding“), wird durch zentrale Kontrolle sichergestellt.

Erfolgschancen einer neuen Politik

Der Gegensatz zwischen der Notwendigkeit gemeinsamer Antworten auf neue Herausforderungen und dem Wunsch nach größerem nationalen Handlungsspielraum kann durch politische Lösungsansätze verringert werden, die Umsetzung verlangt aber auch neue Rahmenbedingungen.
Die Analyse in den vier Politikbereichen mit Reformbedarf und den Best Practice Beispielen untermauert drei Lösungsansätze. Gemeinsame Politik muss sichtbar zur Lösung vorrangiger Probleme beitragen, z.B. die Arbeitslosigkeit senken und die Lebensbedingungen verbessern. Sie muss sich zweitens auf Bereiche konzentrieren, in denen die Vorteile gemeinsamer Politik nachgewiesen werden können. Dies ist etwa in einem größeren Forschungsraum, durch die Berücksichtigung der Wirkungen auf die Nachbarn und das Weltklima oder der Bereitstellung öffentlicher Güter wie Sicherheit und Mobilität der Fall. Und die Politik muss drittens den Spielraum für technische, soziale und ökologische Innovationen ausweiten beispielsweise durch eine Unterscheidung zwischen Grundsätzen und Ausführung, der Mittelvergabe nach Ausschreibungen und regionale und dezentrale Konzepte. Aufträge an die Kommission sollten nach Definition gesellschaftlicher Prioritäten erfolgen. Die Initiativ- und Kontrollrechte des Europäischen Parlamentes sollten gestärkt, Entscheidungen nachgeprüft und evaluiert werden.
Zu den neuen Rahmenbedingungen zählen eine stärkere wirtschaftlichen Dynamik Europas, eine Vision für die Position Europas 2050 in der globalisierten Welt, ein neues Narrativ für das gemeinsame Europa und eine neue Nachbarschaftspolitik.
Eine relativ günstige aktuelle Konjunkturlage kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wirtschaftliche Aktivität in der EU erst 2016 das Vorkrisenniveau erreicht hat und die Arbeitslosigkeit höher liegt als vor der Finanzkrise. Ein dynamisches Europa baut Schulden ab und kann Ungleichheiten leichter reduzieren. Es soll aber nicht der alte Weg unkoordinierter staatlicher Defizite beschritten werden: neue Technologien und Energieeffizienz können Europa zum Weltmarktführer in der Dekarbonisierung machen. Die Verringerung der Ungleichheit und Investitionen in die ökologische Exzellenz verbessern die Lebensbedingungen und stärken die Konsumnachfrage.
Die Rolle Europas in der globalisierten Welt (Aiginger, Pohl 2016) soll in einer „Vision 2050“ skizziert werden. Europa sollte sich das Ziel setzen, eine Region mit hoher und steigender Lebensqualität zu sein. Breitere „Beyond GDP Ziele“ (Van den Bergh, Antal 2014) können in drei Säulen zusammengefasst werden, nämlich wirtschaftliche Dynamik, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit (vgl. WWWforEurope Synthesis Executive Summary). Damit würde das Bruttoinlandsprodukt (und sein Wachstum) als Erfolgsmaß abgelöst. Die neue Zielsetzung wäre stärker mit den konkreten Lebensbedingungen verbunden.
Triebkraft der Einigung Europas war das erfolgreiche Friedensprojekt. Binnenmarkt und gemeinsame Währung haben dann den größten Wirtschaftsraum der Welt geschaffen, sind aber keine ausreichende Motivation für eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Ein neues „Narrativ“ für Europa könnte eine europäisch gestaltete Globalisierung sein. Sie verlangt die Anerkennung sozialer und ökologischer Standards und die Ablehnung von Protektionismus, Zäunen und Mauern.
Die verstärkte Migration verlangt eine bessere Kooperation mit Europas Nachbarn. Europäische Investitionen („ERP 2020“) und kultureller Austausch („Schumpeter Stipendien“) könnten politische Stabilität und einen dynamischen Markt schaffen, der auch die Notwendigkeit zur Migration verringert. Ähnliche Programme der USA nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Optionen für europäische Länder erweitert, und gleichzeitig der USA einen Partner und einen größeren Markt gebracht.

Die Chance auf ein europäisches Jahrhundert

Trotz des holprigen Starts besteht die Chance, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Europas wird. Europa hat mit seiner Priorität von Lebensqualität, sozialem Ausgleich und ökologischer Exzellenz ein besseres Modell anzubieten als das asiatische oder das amerikanische. Die Festlegung auf das Extrem des Zentralismus oder jenes der Renationalisierung ist eine Sackgasse. Eine Kombination zentraler Politik und dezentraler Umsetzung ist der Schlüssel zu Erfolg und Akzeptanz.

  • Aiginger, K., New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition, WWWforEurope Executive Summary, Vienna, Brussels, 2016. http://Synthesis-Summary.foreurope.eu.
  • Aiginger, K., The Europe 2020 strategy at midterm: Disappointing assessment calls for an urgent change driven by long run priorities, WWWforEurope Policy Paper No. 17, October 2014.
  • Aiginger, K., “Why Growth Performance Differed across Countries in the Recent Crisis: the Impact of Pre-crisis Conditions”, Review of Economics and Finance, No.4 /2011, pp. 35-52.
  • Aiginger, K., Pohl, A., Globalisierung: Politische Begleitung statt neuer Mauern – Geschichte, Fakten und Weggabelung, Ökonomenstimme 20.12.2016.
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  • M. Buti & K. Pichelmann: European Integration & Populism – Addressing Dahrendorf’s Quandary, LUISS School of European Political Economy Policy Brief, 30.01.2017.
    IEA World Energy Outlook, 2016.
  • Kratena, K., Thematic report: Macro economic models including specifically social and environmental aspects, WWWforEurope, 2016.
  • Rodrik, D., There is no need to fret about deglobalisation, Financial Times October 4, 2016.
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  • Schratzenstaller Margit: Multilaterale Ansätze zur Lösung multilateraler Problem. Gemeinsame Steuerpolitik ermöglicht nationale Handlungsspielräume, ÖGFE Policy Brief, März 2015.
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  • Summers, L., Voters deserve responsible nationalism not reflex globalism, July 10, 2016.Michael J. Boskin: The Lessons of America’s Election (Project Syndicate, 13.12.2016)
  • Van den Bergh, J., Antal, M., Evaluating Alternatives to GDP as Measures of Social Welfare/Progress, WWWforEurope Working Papers, No. 56, March 2014. http://www.foreurope.eu/fileadmin/documents/pdf/Workingpapers/WWWforEurope_WPS_no056_MS211.pdf.
  • UN-Klimakonferenz in Paris 2015, COP 21.
  • Background Notes wurden verwendet von Kurt Bayer, Cornelius Hirsch, Alexander Hudetz, Vanessa Koch, Johannes Langthaler, Stefan Schaller, Helene Schuberth, Gunther Tichy, Karl Aiginger.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Hinweis
Dieser Policy Brief ist in Kooperation mit der Querdenkerplattform Wien – Europa (www.querdenkereuropa.at) entstanden.
Zitation
Aiginger, K. (2017). Wie ein starkes Europa mehr nationalen Spielraum schaffen könnte. Wien. ÖGfE Policy Brief, 04’2017 – Querdenker Policy Brief 1’2017

Karl Aiginger

Karl Aiginger ist Direktor des WIFO und Leiter des Projektes »Welfare Wealth and Work for Europe – WWWforEurope – Ein neuer Wachstums­pfad für Europa« (EU-FP7) sowie Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.