Tausche Schottland gegen das Vereinigte Königreich: Kann Schottland trotz Brexit in der Europäischen Union bleiben?

Handlungsempfehlungen

  1. Alle Beteiligten müssen sich klar sein, dass als einzig realistisches Szenario einer Mitgliedschaft Schottlands dessen vorgängige Sezession aus dem Staatsverband mit dem Vereinigten Königreich mit nachfolgendem Beitrittsantrag in Betracht kommt.
  2. Die vielfältigen Fragen, die ein Beitritt Schottlands aufwirft, auch etwa das Verhältnis von Schottland zum Vereinigten Königreich, sollten rasch analysiert werden.
  3. Es wäre hilfreich, würden sich die Organe der EU frühzeitig auf einen Beitrittsprozess Schottlands einstellen, um zumindest diesen Vorgang zu beschleunigen.

Zusammenfassung

Das Vereinigte Königreich gibt derzeit nicht zu erkennen, dass ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für Schottland in näherer Zukunft möglich sein sollte. Szenarien, in welchen Schottland auch als Teil des Vereinigten Königreichs Mitglied der Europäischen Union bliebe oder gleichzeitig mit dem Brexit als eigenständiger Staat in die Union aufgenommen würde, wären grundsätzlich denkbar, sind jedoch insgesamt höchst unrealistisch.
So verbleibt den Schotten nur der steinige Weg in die Unabhängigkeit mit nachfolgendem Beitrittsgesuch gegenüber der Europäischen Union.

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Tausche Schottland gegen das Vereinigte Königreich

Kann Schottland trotz Brexit in der Europäischen Union bleiben?*

1. Der Brexit und die Schotten

Die Schotten haben anlässlich der Abstimmung vom 23. Juni 2016 mit über 62% gegen einen Brexit gestimmt, konnten damit bekanntlich jedoch das mehrheitliche Ja für den Brexit im Vereinigten Königreich nicht verhindern. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hat in den vergangenen Monaten mehrfach den Wunsch nach einem neuerlichen Austrittsreferendum geäußert, mit dem Ziel, Mitglied der EU bleiben zu können. Ob dieses Projekt gelingt, ist aus zwei Gründen ungewiss: Zum einen hat Premierministerin Theresa May einem solchen Vorhaben dezidiert eine Absage erteilt und ist offenbar nicht gewillt, die Konzession David Camerons, den Schotten die Entscheidung über ihren Verbleib im Vereinigten Königreich zu überlassen, zu wiederholen.[1] Eine allenfalls von Edingburgh gegen den Widerstand Londons abgehaltene Abstimmung dürfte nicht den Weg in eine geordnete Sezession weisen.
Zum anderen ist keineswegs gewiss, dass der bevorstehende Brexit die Chancen, dass eine völkerrechtliche Sezession Schottlands aus dem Vereinigten Königreich eine Mehrheit in der schottischen Bevölkerung findet, erhöht hat.[2] Es wäre wohl ein Trugschluss zu glauben, alle jene 62% der schottischen Wählerschaft, die gegen den Brexit gestimmt haben, würden einen Verbleib in der EU einem solchen im Vereinigten Königreich vorziehen, insbesondere nachdem im Gefolge des Referendums die Autonomierechte Schottlands weiter ausgebaut wurden.[3]

Es wäre wohl ein Trugschluss zu glauben, alle jene 62% der schottischen Wählerschaft, die gegen den Brexit gestimmt haben, würden einen Verbleib in der EU einem solchen im Vereinigten Königreich vorziehen.

Welche Szenarien rund um den Wunsch der Schotten, in der EU zu verbleiben, möglich sind, wird im Folgenden analysiert.

2. Szenario 1: Stay in/stay in – Schottland bleibt Teil des Vereinigten Königreichs und in der EU („Grönland-Lösung“)

Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass das Ergebnis eines neuerlichen Austrittsreferendums mit großer Unsicherheit behaftet ist, wäre es für Schottland wohl die verlockendste Alternative, einerseits zumindest vorläufig im Staatsverband mit dem Vereinigten Königreich zu verbleiben, andererseits aber auch den Status der Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu behalten.[4]
Es ist keineswegs so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint, dass ein Mitgliedstaat der Union nicht mit seinem gesamten Staatsgebiet Mitglied der Union ist: Grönland und die Färöer-Inseln sind nicht Teil der EU, auch wenn sie zum Staatsgebiet Dänemarks, das seinerseits Mitglied der Union ist, zählen. Der Fall Grönland ist insoweit bemerkenswert, als dieser Teil Dänemarks, das seit 1973 Mitglied der EWG war, diese 1985 verließ.
Dasselbe gilt für verschiedene (aber nicht alle)[5] Überseegebiete Frankreichs[6] wie auch der Niederlande[7]. Einen Sonderfall stellt Zypern dar, das zwar in seiner Gesamtheit als Mitgliedstaat der Union zählt, aber wo Unionsrecht auf Grund der Besetzung Nordzyperns durch die Türkei in diesem Teil der Insel nicht zur Anwendung gelangt.
Die Union hat somit in der Vergangenheit Flexibilität bewiesen. Könnte sie das aber auch im Falle Schottlands?
An dieser Stelle ist nochmals an Art. 50 EUV zu erinnern, welcher die Rechtsgrundlage des Brexit bildet. Die Bestimmung erwähnt einen „Teilaustritt“ eines Staates nicht, schließt ihn allerdings auch nicht explizit aus. Man könnte auch mit einem Größenschluss argumentieren: Wenn Art. 50 EUV einen völligen Austritt eines Staates zulässt, warum dann nicht auch ein „Minus“?
Dessen ungeachtet scheint die Europarechtslehre einen solchen Teilaustritt eines Mitgliedstaates nicht zuzulassen. Der – freilich vor Schaffung des Art. 50 EUV – eingetretene Präzedenzfall Grönland aus der EU war rechtlich kein Austritt, sondern eine Verkleinerung des territorialen Anwendungsbereiches der Verträge.[8] Nach diesem Muster könnte auch Schottland in der EU und im Vereinigten Königreich (UK) verbleiben, während das Unionsrecht auf Rest-UK keine Anwendung mehr findet. Die Mitgliedstaaten als die „Herren der Verträge“ können das Primärrecht in jede Richtung abändern.[9]

Dieses Szenario würde nicht nur von der EU und ihren Mitgliedern, sondern auch vom Rest-UK maximales Entgegenkommen abverlangen, schließlich bliebe ja UK mit einem Teil seines Staatsgebietes in der Union.

Freilich: Dieses Szenario würde nicht nur von der EU und ihren Mitgliedern, sondern auch vom Rest-UK maximales Entgegenkommen abverlangen, schließlich bliebe ja UK mit einem Teil seines Staatsgebietes in der Union. Ganz abgesehen davon wären die sich daraus ergebenden praktischen Fragen enorm, wie etwa jene betreffend die mitten durch das Staatsgebiet des UK verlaufende Zollgrenze.
Auch wenn die „Grönland-Lösung“ insgesamt sinnvoll und praktisch schiene, ist kaum zu erwarten, dass sich die europäische Politik ernsthaft damit befassen wird.[10]

3. Szenario 2: Get out/stay in – Schottland löst sich vom UK und bleibt in der Union

Dieses Szenario setzt eine Sezession Schottlands voraus, ein Vorgang, der, nachdem es kein völkerrechtliches Sezessionsrecht gibt, ohne Zustimmung aus Westminster undenkbar ist.
Nach dem unter Szenario 1 Gesagten ist ein Verbleib Schottlands gleichsam in Sukzession des Vereinigten Königreichs auf der Basis des jetzigen EUV nicht möglich und würde einer entsprechenden primärrechtlichen Grundlage bedürfen, da sowohl Art. 50 EUV (Austritt) als auch Art. 49 EUV (Beitritt) vom Austritt des Gesamtstaates bzw. dem Beitritt eines – allenfalls aus dem ausgetretenen Staat abgespaltenen – neuen Staates ausgehen.
Wie bei Szenario 1 ist eine solche Sondervereinbarung, der die EU und alle Mitgliedstaaten zustimmen müssten, an den bestehenden Vertragsregelungen vorbei, höchst unrealistisch.

4. Szenario 3: Get out to get in – Sezession Schottlands und Antrag auf EU-Mitgliedschaft

Das dritte Szenario ist für Schottland das einzig realistische, wenngleich komplizierteste Szenario. Schottland müsste sich aus dem Staatsverband mit dem Vereinigten Königreich loslösen, was nach dem Gesagten nicht ohne Zustimmung aus Westminster möglich ist.
Als sodann souveräner Staat könnte Schottland gemäß Art. 49 EUV einen förmlichen Antrag auf Aufnahme in die EU stellen.
Dieses Beitrittsverfahren ist – ebenso wie der Austritt – primärrechtlich nur rudimentär geregelt. Die jahrelangen Beitrittsverhandlungen, die aus der Vergangenheit bekannt sind, könnten allerdings in der Praxis erheblich reduziert werden, weil mit Schottland ein Staat aufzunehmen wäre, der EU-Recht jahrzehntelang implementiert und angewandt hat. Dennoch würde der Beitritt Schottlands auch bei gutem Willen aller Beteiligten einige schwierige Fragen aufwerfen, darunter der Verlauf einer EU-Außengrenze im Norden der britischen Insel.

Für Schottland selbst wäre die Zeit zwischen der Loslösung vom Vereinigten Königreich und der Aufnahme in die EU als unabhängiger Staat eine jedenfalls ungemütliche.

Für Schottland selbst wäre die Zeit zwischen der Loslösung vom Vereinigten Königreich und der Aufnahme in die EU als unabhängiger Staat eine jedenfalls ungemütliche: Als souveräner Kleinstaat außerhalb des Daches der Europäischen Union und des Vereinigten Königreiches wäre das Land einem rauen Wind ausgesetzt. Anders als Norwegen oder Island hätte es auch nicht den Zugang zum Binnenmarkt im Wege des EWR. Es könnte sich wohl nicht anders behelfen, als EU-Recht „autonom“ nachzuvollziehen, um damit Wettbewerbsnachteile zumindest einzudämmen.[11]

5. Zusammenfassende Bewertung

Wie gezeigt wurde, ist einzig das Szenario einer vorgängigen Loslösung Schottlands aus dem Staatsverband mit dem UK und einem anschließenden Beitrittsantrag Schottlands realistisch, wenn dieses Land nach einer durch den Brexit bedingten Pause wieder in die EU zurückkehren will. Dessen ungeachtet wird der Weg in die Unabhängigkeit für Schottland angesichts der ablehnenden Haltung von Premierministerin May ein steiniger sein. Erst wenn sich die Nebel rund um den Brexit gelichtet haben, wird das Vereinigte Königreich über Zeit und Energie verfügen, sich mit einer allfälligen Sezession Schottlands zu beschäftigen.
Aber auch im Fall, dass aus London grünes Licht für eine zweite Volksabstimmung kommen sollte, bleibt es ungewiss, ob das schottische Volk seine jahrhundertelange staatsrechtliche Verbindung mit dem Vereinigten Königreich aufgeben und dafür die Mitgliedschaft in der EU eintauschen will.

* Der Autor dankt Dr. Christoph Schramek, Institut für Föderalismus, für seine Unterstützung.
[1] Siehe auch Anderson, Schottland und Europa nach Brexit, in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel (Hrsg.), Brexit und die juristischen Folgen (2017), S. 331.
[2] So auch Anderson, Schottland, S. 331.
[3] Harvey, Devolution im Vereinigten Königreich: ein fortlaufender Prozess, in: Gamper et al (Hrsg.), Föderale Kompetenzverteilung in Europa (2016), S. 425.
[4]Siehe auch Anderson, Schottland, S. 324.
[5] Z.B.: Guadeloupe, Martinique und Réunion (vgl. Der neue Fischer Weltalmanach 2016 [2015] 157 f.).
[6] Z.B.: Französisch-Polynesien, Neukaledonien und St. Barthélemy (vgl. Der neue Fischer Weltalmanach 2016 [2015] 158 f.).
[7] Aruba, Curaçao, Sint Maarten, Bonaire, Saba, Sint Eustatius (vgl. Der neue Fischer Weltalmanach 2016 [2015] 327).
[8] Dazu Pechstein/Streinz, Art. 50 EUV, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2 (2012), Rz 12.
[9] Budischowsky, Art. 50 EUV, in: Mayer/Stöger (Hrsg.), Kommentar zu EUV und AEUV (112. Lfg., 2011), Rz 3 f.
[10] Anderson, Schottland, S. 330.
[11] Siehe auch Anderson, Schottland, S. 332.

  • Anderson, Ross G., Schottland und Europa nach dem Brexit, in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel (Hrsg.), Brexit und die juristischen Folgen, Baden-Baden 2017, S. 323 – 337.
  • Budischowsky Jens, Art. 50 EUV, in: Mayer/Stöger (Hrsg.), Kommentar zu EUV und AEUV, Wien 2011, 112. Lfg.
  • Harvey, Malcolm, Devolution im Vereinigten Königreich: ein fortlaufender Prozess, in: Gamper/Bußjäger/Karlhofer/Pallaver/Obwexer (Hrsg.), Föderale Kompetenzverteilung in Europa, Baden-Baden 2016, S. 405 – 429.
  • Pechstein Matthias/Streinz Rudolf, Art. 50 EUV, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV2, München 2012.
  • Redaktion Weltalmanach (Hrsg), Der neue Fischer Weltalmanach 2016, Frankfurt am Main 2015.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Schlagwörter
Großbritannien, EU-Austritt, Referendum, Schottland
Zitation
Bußjäger, P. (2017). Tausche Schottland gegen das Vereinigte Königreich: Kann Schottland trotz Brexit in der Europäischen Union bleiben? Wien. ÖGfE Policy Brief, 06’2017
Hinweis
Zu diesem Policy Brief ist auch ein Gastkommentar in der Tageszeitung “Der Standard” erschienen.

Peter Bußjäger

Peter Bußjäger ist Universitätsprofessor am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck und leitet das Institut für Föderalismus in Innsbruck.