Europa – bitte aufwachen! (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Was zu Jahresbeginn noch für viele unvorstellbar war, ist nun Realität. Angesichts etlicher Bedrohungsszenarien, mäßiger Wirtschaftsprognosen, Konkurrenz durch aufstrebende globale Player sowie zunehmender Digitalisierung und Beschleunigung fällt es der Politik immer schwerer, nachhaltige Antworten zu entwickeln und die Erwartungen der Menschen nach Wohlstand und (sozialer) Sicherheit zu erfüllen.

Die Krisenszenarien verlaufen parallel, ihre Lösung ist komplex, Ungeduld und Unzufriedenheit nehmen zu. Der Ruf nach raschen, wirksamen Rezepten wird immer dringlicher – und verhallt für viele ungehört in den Gängen von EU-Institutionen und Regierungskanzleien. Aber trat die EU nicht mit dem Versprechen an, dass gerade gemeinsames Handeln in einer globalisierten Welt die Interessen und den Schutz ihrer Bürger am besten gewährleisten würde? Warum also die ständigen Differenzen zwischen EU-Staaten? Warum der zähe, zögerliche Entscheidungsfindungsprozess auf EU-Ebene?

Eine aktuelle Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik spiegelt dies wider: 42 Prozent der Befragten halten nationalstaatliche Lösungen für erfolgversprechender, um die Herausforderungen zu bewältigen. Nur 29 Prozent würden es befürworten, wenn die EU dafür mehr Kompetenzen von den Mitgliedstaaten erhielte, 54 Prozent wären dagegen.

Wann, wenn nicht jetzt, sollte die sich ständig weiter drehende Eskalationsspirale eines Rückzugs ins Nationale, der Wiedererrichtung von physischen und psychischen Grenzen und Barrieren, des Vertrauensverlusts in Politik und Medien sowie von Emotionalisierung und Polarisierung eingebremst werden? Hier ist Alexander Van der Bellens Wahlsieg ein kleiner, aber wichtiger Lichtblick für die Europäische Union.

Um die Erfolge und Möglichkeiten des Integrationsprozesses nicht leichtfertig preiszugeben, müssen alle Anstrengungen unternommen werden, eine glaubhafte Gegenerzählung zum populistischen Anti-Diskurs zu entwickeln. Das gelingt nicht mit Sonntagsreden, die unrealistische Erwartungen schüren. Es braucht Offenheit und Ehrlichkeit, um Schwierigkeiten zu benennen und zu bewältigen. Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte, die die Anliegen des jeweils anderen ernst nimmt. Es braucht eine Klärung und Neudefinition, welche Kompetenzen besser auf nationaler und welche auf EU-Ebene aufgehoben sind. Und es braucht konkrete Handlungen im Kampf gegen die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit, um jenen, die sich zurückgelassen fühlen, eine positive Zukunftsperspektive zu vermitteln.

Ein steiniger, aber unumgänglicher Prozess, der nur gelingt, wenn europäische wie nationalstaatliche Akteure zu einem Grundkonsens zurückfinden, wie der künftige Weg der EU-Integration aussehen soll. Dazu gehört auch eine Diskussion über unterschiedliche Integrationsstufen innerhalb der EU. Voraussetzung für all dies ist, dass sich die nationale Politik EU-weit mit Nachdruck auch zu ihrer europäischen Verantwortung bekennt. Dann wird auch das allgemeine Vertrauen in den Sinn und Nutzen einer europäischen Zusammenarbeit wieder steigen – und die Schockmomente werden rarer.