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Die ungewisse Gewissheit des britischen EU-Referendums (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Die Debatte um die britische EU-Mitgliedschaft erreicht mit dem Brexit-Referendum ihren Höhepunkt. Verabschiedet sich Großbritannien tatsächlich aus der EU, hätte dies auch weitreichende Konsequenzen für die zukünftige Integrationsdynamik in Europa. Ein britisches Opt-out aus der Union könnte Schule machen und desintegrative Kräfte in anderen Mitgliedsländern stärken. Eine Entwicklung, deren Ausgang ungewiss ist, aber umso sicherer die EU in ihrer Handlungsfähigkeit vor gänzlich neue Herausforderungen stellt.

Auch bei einem britischen Verbleib in der EU wären wir gut beraten, die Debatte über Sinn und Zweck der EU zu vertiefen. Nach Jahrzehnten fortlaufender Integrationsschritte kann die EU- in den Augen vieler – ihre Erfolgsgeschichte derzeit nicht mehr weiterschreiben. Wirtschafts- und Finanzkrise, Flüchtlingsfrage, verstärkter globaler Wettbewerb, Digitalisierung und neue Bedrohungsszenarien greifen massiv in die reale wie mentale Lebenswirklichkeit der Menschen ein, fördern Abstiegsängste und stellen traditionelle Identitätsmuster in Frage. Angesichts der Komplexität der Problemstellungen und divergierender nationalstaatlicher Interessen agiert die EU hauptsächlich defensiv und kann die in sie gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllen.

Als Allheilmittel gegen diese Szenarien wird – nicht nur auf der britischen Insel – die Forderung nach einer Renationalisierung immer populärer. Die zunehmende Furcht vor Kontrollverlust führt immer mehr zu einer Emotionalisierung und Polarisierung der Diskussion, während der wirtschaftspolitische Diskurs den Empfänger nicht erreicht. Die Trennungslinien verlaufen entlang der Generationen, des formellen Bildungsgrades und zwischen Stadt und Land, die Verunsicherung schwappt jedoch auch auf weitere Bevölkerungsgruppen über.

Die Kritik am politischen “Establishment” ist dabei nicht zuletzt hausgemacht.

Nach wie vor wird in der politischen Auseinandersetzung das eigene europäische Haus schlechtgemacht, um im nationalen Schrebergarten kurzfristig zu punkten. Als Konsequenz leidet letztlich vor allem die eigene Glaubwürdigkeit. Wer jahrelang die EU – und damit sich selbst – kleinredet und die eigenen Beschlüsse umdeutet, darf sich heute nicht über Renationalisierungsromantik und Zulauf zu politischen Extremen wundern.

Was es braucht, ist eine glaubhafte europäische Gegenerzählung zum nationalen Insel-Diskurs. Kritik ist richtig, aber die tatsächlichen Errungenschaften und das Potenzial gemeinsamen europäischen Gestaltens müssen stärker thematisiert werden. Einzelstaatlichen Scheinlösungen sollten attraktive und funktionierende gemeinsame Alternativmodelle gegenübergestellt werden, die die Sorgen der Menschen besser berücksichtigen und Wohlstand, Demokratie und (soziale) Sicherheit bestmöglich gewährleisten. Dafür braucht es eine selbstbewusste und ehrliche europäische Debatte über die Vor- und Nachteile des europäischen Projekts.

Das anstehende Brexit-Referendum ist einer der letzten Weckrufe für die Politik, sich der eigenen europäischen Verantwortung offensiv zu stellen.