Was soll die EU können dürfen, um die EU-Verfassungswerte und die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten zu schützen?

Handlungsempfehlungen

  1. Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten sind gefordert, durch einen strukturierten Werte-Dialog  (zum Beispiel in Form einer Offenen Methode der Koordinierung, OMK) das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit zu stärken.
  2. Eine solche EU-Rechtsstaatsinitiative sollte als EU-weiter und vertrauensbildender Lernprozess gestaltet sein. Dies birgt das Potential, aktionistische, anlass-bezogene und selektive Wertedebatten zu ersetzen durch eine faktenorientierte und permanente Diskurskultur allen Mitgliedstaaten gegenüber.
  3. Vertrauen, Gleichbehandlung und Versachlichung können insbesondere erreicht werden durch: die Betrauung bereits bestehender Experteninstitutionen auf Europäischer wie nationaler Ebene; die breite Einbeziehung aller Stakeholder; sowie die Anwendung objektiver Indikatoren.

Zusammenfassung

Im Rahmen der ‘Österreich-Krise‘ des Jahres 2000 wurden die Fragen der Europäischen Werte und der Kontrolle europäischer ‘Verfassungshomogenität‘ engagiert diskutiert. Die Grenzen sowie das Potenzial bestehender Sanktionsinstrumente wurden analysiert. Doch die jüngsten Diskussionen rund um die Verfassungsentwicklungen in Ungarn und Rumänien gaben der Diskussion eine neue Richtung und Kraft. Nunmehr geht es um eine umfassende EU Rechtsstaatsinitiative zu der sich neben dem Europäischen Parlament jüngst auch der Rat der Europäischen Union dezidiert geäußert hat. Die Europäische Kommission hat angekündigt, nach einer Phase der Konsultation Vorschläge zu machen, wie in Hinkunft die EU und ihre Mitgliedstaaten sich dem breiten Thema der Rechtsstaatlichkeit und der Artikel 2 Werte annehmen können. Die Idee einer EU-Rechtsstaatsinitiative ist inhaltlich noch offen und ihre Ausverhandlung und Verwirklichung wird Gegenstand komplexer politischer Verhandlung. Mit ersten Vorschlägen ist bereits in der Erklärung des Präsidenten der Kommission zur Lage der Union in der zweiten Septemberwoche 2013 zu rechnen.

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I. Einleitung: ein ‘Verfassungsbogen‘ für die EU?

Dass man auf Europäischer Ebene Wertedebatten führt ist nichts Neues. Was aber jüngst die politische Bühne innerhalb der EU prägt, geht über die Fernanalyse akademischer Aufsätze beziehungsweise die Luftigkeit politischer Sonntagsreden hinaus[1]: es geht um die Frage, welche praktische Tragweite die Verfassungswerte der Europäischen Union haben und inwieweit der Europäischen Union eine operative Kontrollfunktion bei der Frage zukommen soll, ob ein Mitgliedstaat sich in seiner Wertehaltung noch innerhalb des ‘Verfassungsbogens‘ der Europäischen Union bewegt.[2]
Ein ‘Verfassungsbogen‘ versinnbildlicht, was ein System als akzeptabel und systemverdaulich empfindet und was andererseits als nicht mehr tolerabel zu betrachten ist. Wertehaltungen jenseits des Verfassungsbogens gelten gewissermaßen als pathologisch, da sie der elementaren Orientierung des Systems widersprechen und zu einer Situation führen, in der das politische System nicht mehr mit seinen Grundwerten ‘im Reinen‘ ist. Insofern rechtfertigt eine solche Pathologie zum ‘systemhygienischen Eingriff‘ um einen wertekonformen Zustand zu garantieren. So zumindest die Lage auf nationaler Ebene. Gibt es aber eine vergleichbare ‘Verfassungshygiene‘ der EU ihren Mitgliedstaaten gegenüber?

II. Die Verfassungswerte der EU: fehlt eine Kultur des unaufgeregten Wertediskurses?

Tatsächlich definieren die EU-Verträge seit gut 2 Jahrzehnten was denn die Grundwerte des Verfassungsverbunds der EU sind. Seit dem Vertrag von Amsterdam – in Kraft seit 1. Mai 1999 – sind diese Werte sogar sanktionsbewehrt, da es der EU möglich ist, gegen einen Mitgliedstaat vorzugehen, der diese Werte qualifiziert verletzt (Artikel 7 des EU-Vertrages). Insofern wird mit dieser Bestimmung nicht nur politisch ein Signal einer gewissen ‘Verfassungshomogenität‘ innerhalb der EU ausgestrahlt, sondern auch juristisch der EU eine neue Aufgabe übertragen.[3]
Gemäß Artikel 2 EUV gilt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.
In Summe bieten diese ‘Verfassungswerte‘ der EU ein durchwachsenes Bild. Manche sind sehr klar und stehen auf starken unionsrechtlichen Vorgaben, während andere relativ vage und unionsrechtlich unterentwickelt sind und wohl erst im Rahmen eines gemeinsamen Deutungsprozesses normative Strahlkraft entwickeln können. Insofern waren die Mütter und Väter des Artikel 2 EUV in ihrer Ambition recht optimistisch: sie waren der Ansicht, ausschließlich Werte vorzugeben, die einen „harten Kern“ an „grundlegenden Werten“ verkörpern, die einen „eindeutigen und unstrittigen grundlegenden juristischen Gehalt haben, damit die Mitgliedstaaten erkennen können, welche sanktionsbewehrten Verpflichtungen ihnen aus diesen Werten erwachsen“.[4]
Regelmäßige verfassungsvergleichende Erhebungen und Analysen könnten die aus den gemeinsamen Verfassungswerten fließenden Verpflichtungen konkretisieren und eingrenzen. Ein solcher quasi alltäglicher Wertediskurs fehlt gegenwärtig. Vielmehr kommt es nur dann zu Debatten über die Europäischen Verfassungswerte, wenn wieder einmal ein EU-Mitgliedstaat an einer Verfassungskrise entlangschrammt. Dies hat zur Folge, dass die Wertedebatten aktionistischen ad hoc Charakter haben und sich an Einzelfällen orientieren und somit nur bedingt geeignet sind kollektive Lernprozesse anzustoßen.
Darüber hinaus zeigte die „Österreich Krise“[5] des Jahres 2000 sowie die „Italien Krise“[6] des Jahres 2004,  aber auch die jüngsten Verfassungskrisen in Ungarn und Rumänien[7], dass das politische Sanktionsverfahren, welches Artikel 7 des EU-Vertrages bereithält, wenig Praxisrelevanz hat: seine prozeduralen wie substantiellen Hemmschwellen sind sehr hoch und somit wurde es bis heute nie angewandt. Daran hat auch der Vertrag von Nizza nichts geändert: Die Erfahrung der Österreich-Krise führte zwar zur Schaffung eines Frühwarnmechanismus, doch in der politischen Wahrnehmung hat auch das seit Februar 2003 zur Verfügung stehende Verfahren zur Feststellung einer „eindeutige[n] Gefahr [!] einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ ‘nuklearen‘ Charakter. Nuklear insofern, als das Verfahren funktionell einer Atombombe gleichgestellt wird: es erscheint lediglich zur Abschreckung, nicht aber zur Anwendung gedacht.

III. Die Kontrolle über die Einhaltung der EU-Verfassungswerte: vier Dilemmata

A. Ein Europäisches Böckenförde Dilemma
Ernst Wolfgang Böckenförde hat für den freiheitlichen Staat festgehalten, dass er „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“.[8] Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, aus der Gesellschaft selbst ergibt: er kann nicht Freiheit staatlich verordnen, ohne selbst seine Freiheitlichkeit aufzugeben. Auf EU-Ebene gibt es ein verwandtes Dilemma, denn die EU ist als arbeitsteilige Organisation auf die Umsetzung ihres Rechts durch die Mitgliedstaaten angewiesen. Eine zwangsweise Umsetzung der Artikel 2 Werte in allen Politikbereichen ist ihr nicht möglich, ohne in den Zustand eines interventionistischen Bundesstaates zu verfallen. Insofern lebt die EU von einem Wertebestand den sie alleine nicht garantieren kann. Umso wichtiger erscheint es, die Mitgliedstaaten und die EU über eine Rechtsstaatsinitiative in einen strukturierten Dialog zu setzen.
B. Das Dilemma des widerlegbaren Vertrauens
Die Europäische Union basiert auf der Prämisse, dass die Artikel 2 Werte „allen  Mitgliedstaaten gemeinsam sind“. Insbesondere der Mechanismus gegenseitiger Anerkennung – etwa von Urteilen aus anderen Mitgliedstaaten – basiert auf diesem Credo. Den Mitgliedstaaten ist es somit im Prinzip nicht möglich, etwa den Schutz der Menschenrechte gegen die Anerkennung von Akten aus anderen Mitgliedstaaten in Stellung zu bringen. Gleichzeitig aber klärte der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Europäischen Asylrecht, dass die Vermutung eines menschenrechtskonformen Zustandes in anderen Mitgliedstaaten widerlegbar sein muss.[9] Die Mitgliedstaaten befinden sich somit im Dilemma, die Menschenrechtslage in den anderen Mitgliedstaaten im kritischen Auge behalten zu müssen ohne dass ihnen gleichzeitig von Seiten der EU eine entsprechend umfassende Faktenlage sowie Analyse anhand gestellt würden. Auch hier könnte eine Rechtsstaatsinitiative Abhilfe schaffen.
C. Das Dilemma der Innen/Außen-Diskrepanz
Während die EU gegenüber den beitrittswerbenden Staaten ein detailliertes jährliches ‘monitoring‘ betreibt, das sich auch auf Bereiche jenseits der Rechtsetzungskompetenz der EU erstreckt, sind ihre Handlungs- und Einwirkungsoptionen den Mitgliedstaaten gegenüber eingeschränkt. Dies war denn auch der Grund warum sich die „alten“ Mitgliedstaaten der EU15 gegen allfällige „Rückfälle“ der jungen Demokratien aus Mittel- und Osteuropa im Vertrag von Amsterdam bereits im Vorfeld der Beitrittswellen von 2004 und 2007 absichern wollten und ein neues Sanktionsverfahren in Artikel 7 des EU-Vertrages einführten.[10] Wie beschrieben, hat das Artikel 7 Verfahren jedoch nicht zu einer regelmäßigen Befassung mit der Lage der Verfassungswerte in den EU-Mitgliedstaaten geführt. Eine Rechtsstaatsinitiative könnte dazu beitragen, die Diskrepanz zwischen, einerseits,  der Prüfungsdichte der EU vis-a-vis ihren Mitgliedstaaten und, andererseits, gegenüber ihren Aspiranten zu verringern. Dies wäre nicht zuletzt auch für ein überzeugend(er)es internationales Auftreten der EU von Nutzen.
D. Das Dilemma des fehlenden dritten Weges
Verstöße gegen in Kraft stehende EU-Gesetzgebung können effizient durch bestehende Verfahren wie etwa das Vertragsverletzungsverfahren geahndet werden. Eine Verletzung der EU-Verfassungswerte in Bereichen die nicht durch EU-Gesetzgebung oder zumindest eine klare EU-Gesetzgebungskompetenz abgedeckt sind, unterliegt hingegen lediglich dem Artikel 7 Verfahren, welches wiederum von politischen Institutionen (Rat, Parlament, Kommission) initiiert wird und nur sehr beschränkt justizieller Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes unterliegt.
So wurde in der jüngsten „Ungarn-Krise“ kritisiert, dass die EU die angebliche Beeinträchtigung der hehren EU-Verfassungswerte allein durch technische Vertragsverletzungsverfahren beantworte, nämlich in jenen ausgewählten Bereichen in denen die EU eine Gesetzgebungskompetenz hält wie zum Beispiel das Verbot der Diskriminierung auf der Grundlage des Alters oder die Unabhängigkeit von Datenschutzbehörden. Themen der weiteren „Rechtsstaatsdebatte“ blieben ausgespart, was die EU als begrenzt handlungsfähig in diesen Bereichen erschienen ließ.  Im Gegensatz dazu zeigte die „Rumänien-Krise“ des Jahres 2012, dass die Verfügbarkeit einer regelmäßigen Dialogplattform, zusätzliche Spielräume eröffnet: für Rumänien (und im Übrigen auch Bulgarien) besteht eine spezielle „Regelung für die Zusammenarbeit und Überprüfung”, die es der EU erlaubt, jährlich genauestens Bericht zu erstatten, und zwar auch in hochrelevanten Bereichen wie etwa die Unabhängigkeit der Justiz oder der Korruption. Vor diesem Hintergrund war das Krisenmanagement der Kommission vis-a-vis Rumänien thematisch breiter aufgesetzt als gegenüber Ungarn. Tatsächlich wurden Rufe laut nach einem permanenten und generellen – auf alle Mitgliedstaaten anwendbaren – dritten Weg zwischen punktuell-technischem Vertragsverletzungsverfahren und dem angeblich ‘nuklearem‘ Sanktionsverfahren in Artikel 7 des EU-Vertrages.

IV. Der Handlungsbedarf  in den Augen der EU Kommission

In seiner Rede zur Lage der Union erklärte der Präsident der EU-Kommission im Herbst 2012, „dass wir das Fundament unserer Union stärken müssen: die Achtung unserer Grundwerte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie“. In den Augen des Präsidenten zeigten die Krisen in Ungarn und Rumänien, dass der EU-Rahmen unzureichend sei: „Wir brauchen ein besseres Instrumentarium – nicht nur die Alternative zwischen der ‘sanften Gewalt‘ politischer Überzeugungskunst und der ‘radikalen Option‘ von Artikel 7 des Vertrags“.[11]
In die gleiche Kerbe schlug die zuständige Kommissarin Viviane Reding, die betonte, dass punktuelle Vertragsverletzungsverfahren wichtig seien, aber man über diese nicht das größere Bild aus den Augen verlieren dürfe. Sie kritisierte den gegenwärtigen Mangel an einem effizienten Mechanismus, der es erlauben würde die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU „generell und systematisch“ durchzusetzen. In mehreren Reden verwies sie auf die Existenz eines „Kopenhagen-Dilemmas“ im Sinne der oben erwähnten Innen/Außen-Diskrepanz und forderte die Schaffung eines neuen „objektiven Mechanismus“.[12]
Nachdem die Kommission bereits im März 2013 ihr „Justiz-Barometer“ vorgestellt hat[13], wurde sie kürzlich vom Rat der EU aufgefordert, weitergehende Vorschläge zu unterbreiten. Die Kommissarin Viviane Reding kündigte daraufhin an, den Rat, das Parlament sowie andere relevante Parteien zu konsultieren und im November 2013 eine Konferenz zur Rolle der Gerichtsbarkeit zu veranstalten. Auf dieser Grundlage wolle die Kommission „in angemessenem Zeitraum“, ihre Position zu weiteren Schritten in Sachen Rechtsstaatsinitiative verkünden.[14]

V. Der Handlungsbedarf in den Augen des Rates der EU

Im ersten Halbjahr 2013 hat sich die irische EU-Präsidentschaft das Thema einer „Rechtsstaatsinitiative“ auf die Fahnen geschrieben und entsprechende Verhandlungen geführt sowie Veranstaltungen organisiert.[15] Die Bemühungen der irischen Präsidentschaft trugen in den Schlussfolgerungen des Rates vom 6. Juni 2013 Früchte. In der Substanz trifft der Rat der Europäischen Union drei wichtige Weichenstellungen für die Rechtsstaatsinitiative.[16]

  1. Es wird eine Debatte über die Möglichkeit der regelmäßigen Behandlung der Rechtsstaatlichkeit eingefordert. Was in den Raum gestellt wird, ist die Möglichkeit, Rechtsstaatlichkeit „im Wege einer auf Zusammenarbeit beruhenden, systematischen Methode“ auf EU-Ebene zu behandeln. Die Debatte zur Etablierung einer solchen „Methode“ soll öffentlich sein und alle einschlägigen Einrichtungen auf nationaler wie auf EU Ebene einbinden. Darüber hinaus soll auch die Zivilgesellschaft beteiligt werden.
  2. Es werden auch inhaltliche Vorgaben für diese Debatte gemacht. Die Schlussfolgerungen halten fest, dass die Debatte Konsens herstellen soll, welche Probleme die Rechtsstaatsinitiative behandeln soll und welche Methode und Indikatoren sie dabei anwenden soll. Des Weiteren soll herausgearbeitet werden, welchen Mehrwert die Rechtsstaatsinitiative bieten kann.  Schließlich sind sämtliche möglichen Modelle zu prüfen um den notwendigen Konsens aller Mitgliedstaaten zu erzielen.
  3. Die Schlussfolgerungen machen auch Vorgaben für die Rechtstaatsinitiative selbst. Vier zentrale Anforderungen werden an den möglichen künftigen Mechanismus gestellt: Er soll auf Kooperation mit anderen Mechanismen, insbesondere des Europarats, bauen und somit Überschneidungen vermeiden;  er soll transparent sein; er soll „auf Grundlage objektiv gesammelter, verglichener und analysierter Fakten“ operieren und nach dem „Grundsatz der Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten durchgeführt“ werden.

VI. Der Handlungsbedarf in den Augen  des Europäischen Parlamentes

Das Europäische Parlament hat sich in den erwähnten „Krisen“ jeweils prononciert für die Verteidigung der EU-Verfassungswerte eingesetzt. Anfang Juli 2013 begrüßte das Parlament in seiner Entschließung zur „Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn“ das von der Kommission neu eingeführte „Justiz-Barometer“, forderte aber dessen Ausweitung „auf das Strafrecht, die Grundrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie“[17] Die Kommission dürfe sich generell nicht auf spezifische Verstöße des EU-Rechts konzentrieren, sondern müsse auch die „systematische Veränderung der Verfassungs- und Rechtsordnung sowie der Verfassungs- und Rechtspraxis eines Mitgliedstaats“ im Auge haben. So forderte das Parlament eine „Alarm-Agenda für Artikel 2 EUV“, d. h. einen Überwachsungsmechanismus für die Werte der Union. Ein derartiger Mechanismus könnte die Form einer „Kopenhagen-Kommission“, oder einer hochrangigen Gruppe, einer „Gruppe von Weisen“ oder einer Bewertung gemäß Artikel 70 AEUV annehmen, „und auf der Reform und der Stärkung des Mandats der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und auf der Struktur eines intensiveren Dialogs über notwendige Maßnahmen zwischen der Kommission, dem Rat, dem Parlament und den Mitgliedstaaten, aufbauen“.
Das Parlament kündigte an, zu diesem Thema noch vor Jahresende eine Konferenz einzuberufen und empfiehlt, dass der Mechanismus der Rechtsstaatsinitiative:

  1. „politisch unabhängig sowie schnell und wirksam sein sollte, wie alle Mechanismen der Europäischen Union, die sich auf die Überwachung von Mitgliedstaaten beziehen;
  2. in vollem Umfang mit anderen internationalen Einrichtungen zum Schutz der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit zusammenarbeiten sollte;
  3. in allen Mitgliedstaaten, unter der vollständigen Wahrung einzelstaatlicher Verfassungstraditionen, regelmäßig die Achtung der Grundrechte sowie die Lage der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit überprüfen sollte;
  4. die Überprüfung einheitlich in allen Mitgliedstaaten durchführen sollte, um jegliche Risiken von unterschiedlichen Maßstäben unter den Mitgliedstaaten zu vermeiden;
  5. die EU frühzeitig vor möglichen Risiken eines Verfalls der Werte, die in Artikel 2 EUV verankert sind, warnen sollte;
  6. Empfehlungen an die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten abgeben sollte, wie sie auf einen Verfall der Werte nach Artikel 2 EUV reagieren und diesen beheben sollten;“.

Weitere Festlegungen werden wohl in der nächsten Parlamentsentschließung zur Lage der Grundrechte innerhalb der EU im Herbst 2013 erfolgen.[18]

VII. Darf, kann, soll sich die EU in Fragen der ‘Rechtsstaatshygiene‘ mischen?

Die Garantie der Verfassungswerte, die der Europäischen Union sowie ihren Mitgliedstaaten gemein sind, obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten. Soll die Europäische Union das bleiben was sie ist – nämlich kein Superstaat – so hat diese Aufgabenteilung Sinn und Bestand. Doch mit dem literarischen Fürst von Lampedusa mag man die Frage stellen, ob sich nicht einiges ändern muss damit alles bleiben kann wie es ist. Wenn nämlich die Wertedebatte stets in aufgeregten politischen Krisen geführt wird und nicht in einen soliden Rahmen eines regelmäßigen, auf Fachexpertise fußenden Austausch gebettet ist, so mag man die gegenwärtige Situation gut und gerne in Frage stellen.
Die Einführung eines neuen Mechanismus im Bereich der Rechtsstaatlichkeit bedarf nicht notwendigerweise einer Änderung der EU-Verträge. Dies wäre nötig, wenn das Artikel 7 Verfahren oder ganz generell die europarechtliche Verpflichtungslage der Mitgliedstaaten geändert werden soll. Doch für die Einführung eines von EU wie den Mitgliedstaaten gemeinsam getragenen, strukturierten und regelmäßigen Dialogs muss nicht auf die Änderung der EU-Verträge in vager Zukunft vertröstet werden.
Freilich besteht die Gefahr, dass eine EU-Rechtsstaatsinitiative als Zeichen eines Wildwuchses des Einflusses der EU missverstanden wird. Dem ist eine positivere Leseart entgegenzusetzen, nämlich, dass ein derartiges Engagement der EU gerade im Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten helfen könnte, die vor Jahren ausgerufene „Grundrechtskultur“ in einer Art und Weise zu unterfüttern, die es erlaubt, rechtstaatliche Probleme objektiv und regelmäßig zu diskutierten. Dies würde nicht zuletzt auch dazu beitragen, asymmetrische bzw. politisch motivierte ‘Artikel 7 Vorwürfe‘ zu vermeiden.
‘Integrationspsychologisch‘ scheint es wichtig zu unterstreichen, dass eine Rechtsstaatsinitiative der EU nicht sanktionsorientiert, sondern vertrauensorientiert sein sollte: Die Idee sollte nicht in erster Linie einen Sanktionsmechanismus bedienen, sondern ein solides Vertrauen in die Rechtstaatlichkeit der politischen Systeme der 28 Mitgliedstaaten herstellen. Schließlich ist es  a la longue unmöglich, einen „Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ zu betreiben, ohne auf ein ebensolches Vertrauen bauen zu können.
In Abwandlung des dumpfen Diktums von Lenin „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ mag man für den Verfassungsraum der EU fordern: „Vertrauen ist gut, faktengestütztes Vertrauen ist besser“. Wie diese Fakten erhoben, diskutiert und allenfalls in eine offene Methode der EU-weiten Koordinierung eingebracht werden, ist breit zu diskutieren. Tatsächlich wäre es hilfreich, wenn die Rechtsstaatsinitiative nicht von oben verordnet wird, sondern auch von unten wächst. Nationale Menschenrechtseinrichtungen und zivilgesellschaftliche Einrichtungen auf nationaler Ebene sind deshalb einzubinden. Nationale Grundrechtsplattformen (in Anlehnung an  die Grundrechtplattform der EU Grundrechteagentur)[19] könnten hier gute Dienste erweisen.
Generell muss das Rad nicht neu erfunden werden. Vieles an Institutionen, Verfahren und Daten ist bereits vorhanden und muss nur vernetzt werden. So könnten alle bestehenden Daten und Analysen der Vereinten Nationen, des Europarates wie der EU im Sinne eines virtuellen ‘one-stop-shop‘ zusammengebracht werden. Dies würde nicht nur deren Zugänglichkeit wesentlich steigern, sondern auch deren Sichtbarkeit.
Seit Längerem diskutiert man auch objektive „SPO-Indikatoren“ im Bereich der Grundrechte und der Rechtstaatlichkeit. Diese sollen nicht nur messen, ob Staaten erforderliche Normen erlassen und Institutionen gegründet haben („Structures“), sondern auch ob entsprechende Politiken umgesetzt werden („Process“) und, drittens, ob all diese Bemühungen auch konkrete Auswirkungen für Otto Normalverbraucher haben („Outcome“).[20] Es gibt somit viele Bausteine für die EU-Rechtstaatsinitiative, um das Radwerk Europäischer Rechtstaatlichkeit in neuen Schwung zu versetzen.

1) Die gegenwärtige Prominenz des Themas konnte auch am Interesse für das Rechtsstaatssymposium der Grundrechteagentur vom 7. Juni 2013 abgelesen werden. Ein Bericht findet sich online unter fra.europa.eu/sites/default/files/fra-symposium-2013-final-report.pdf.
2) Der Begriff des „Verfassungsbogen“ stammt aus der italienischen Innenpolitik (arco costituzionale). Der Begriff wurde später von Andreas Kohl für Österreich adaptiert und diente auch hierzulande in erster Linie als Abgrenzungsschild nach Rechtsaußen. Doch natürlich grenzt das Bild eines  Verfassungsbogens gleichermaßen gegen linken Extremismus ab.
3) Siehe KOM(2003) 606 endgültig vom 15. Oktober 2003, online unter eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do.
4) Siehe das Dokument des Verfassungskonvents CONV 528/03 vom 6. Februar 2003, online unter european-convention.eu.int/pdf/reg/de/03/cv00/cv00528.de03.pdf.
5) Für eine Vielzahl an Literaturverweisen siehe Gabriel N. Toggenburg, La crisi austriaca: delicati equilibrismi sospesi tra molte domensioni, in: Diritto Pubblico Comparato ed Europea, 2001, S. 735-756.
6)Siehe etwa jüngst Frank Hofmeister, Enforcing the EU Charter of Fundamental Rights in Member States – how far are Rome, Budapest and Bucharest from Brussels?, in: Von Bogdandy und Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, im Erscheinen.
7) Siehe dazu Fundamental Rights Agency (FRA 2013), The European Union as a Community of values: safeguarding fundamental rights in times of crisis, online unter fra.europa.eu/sites/default/files/annual-report-2012-focus_en.pdf.
8) Ernst Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976.
9) EuGH, verbundene Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10, 21. Dezember 2011.
10) Der Lauf der Geschichte war nicht ganz frei von Ironie: die beiden Länder, die in den Jahren 2000 und 2004 erstmals verdächtigt wurden ‘Artikel-7-reif‘ zu sein waren Österreich (im Jahr 2000) und Italien (im Jahr 2004) – just jene 2 Staaten, die den Vorschlag zu einem solchen Artikel in die Verhandlungen zum Amsterdam Vertrag eingebracht hatten (die ‘Schüssel-Dini-Initiative‘).
11) José Manuel Durão Barroso, Rede zur Lage der Union 2012, 12. September 2012, online unter europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-12-596_de.htm.
12) Siehe etwa die Rede Redings im Europäischen Parlament: Annex III im Ratsdokument 13780/12 vom 12. September 2013, online unter register.consilium.europa.eu/pdf/en/12/st13/st13780.en12.pdf.
13) Siehe ec.europa.eu/justice/effective-justice/scoreboard/index_en.htm.
14) Viviane Reding, Rede vom 2. Juli 2013, online unter europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-603_de.htm.
15) Siehe aber bereits den Schlussbericht der „Gruppe zur Zukunft Europas“, der auch der Außenminister Österreichs angehörte, online unter www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/626324/publicationFile/171784/120918-Abschlussbericht-Zukunftsgruppe-Deutsch.pdf.�� Des Weiteren sandten im März 2013 die Außenminister von Dänemark, Deutschland, Finnland und den Niederlanden einen Brief an den Präsidenten der EU Kommission in dem sie ebenso für einen neuen, schnellen  und unabhängigen „Mechanismus“ argumentierten. Online zB unter www.rtt.ro/en/scrisorea-prin-care-germania-finlanda-danemarca-si-olanda-solicita/.
16) Siehe Schlussfolgerungen des Rates zu den Grundrechten und zur Rechtsstaatlichkeit und zum Bericht der Kommission über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012), Vorlage online unter www.parlament.gv.at/PAKT/EU/XXIV/EU/11/59/EU_115968/imfname_10404701.pdf
17) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. Juli 2013, online unter www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do.
18) Siehe dazu bereits die folgenden zwei Arbeitsdokumente: Arbeitsdokument I vom 2. Juli 2013, PE 514.668v01-00, online www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do und Arbeitsdokument II vom 2. Juli 2013, PE514.669v02-00, online unter www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do.
19) Siehe Morten Kjaerum und Gabriel N. Toggenburg, The Fundamental Rights Agency and Civil Society: Reminding the Gardeners of their Plants’ Roots, in European Diversity and Autonomy Papers, EDAP 02/2012, online unter webfolder.eurac.edu/EURAC/Publications/edap/2012_edap02.pdf.
20) Für weitere Informationen siehe etwa das FRA-Symposium des Jahres 2011, online unter fra.europa.eu/fraWebsite/symposium2011/index.html.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Zitation
Toggenburg, G. N. (2013). Was soll die EU können dürfen um die EU-Verfassungswerte und die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten zu schützen? Ausblick auf eine neue Europäische Rechtsstaatshygiene. Wien. ÖGfE Policy Brief, 10’2013

Dr. Mag. Gabriel N. Toggenburg

Dr. Mag. Gabriel N. Toggenburg, LL.M. ist Programm Manager Legal Research an der Grundrechteagentur der Europäischen Union (www.fra.europa.eu) und Gastdozent an der Universität Graz (uni-graz.academia.edu/GabrielToggenburg).
Die hier geäußerten Ansichten sind ausschließlich privater Natur und können nicht der Agentur zugerechnet werden.