Zurück in die Zukunft: Perspektiven für ein soziales Europa

Handlungsempfehlungen

  1. Durchführung der verstärkten Koordinierung im Rahmen des europäischen Semesters in der Sozialpolitik durch Arbeits- und Sozialminister – wo notwendig zusammen mit den Sozialpartnern – und nicht wie bisher durch Wirtschafts- und Finanzminister.
  2. Stärkung der sozialpolitischen Ziele der Gemeinschaft durch verbindliche Rechtssetzung.
  3. Förderung einer effektiven Interessenvertretung durch Ausbau der europäischen Mitbestimmung und stärkere Nutzung der quasi-legislativen Funktion des sozialen Dialogs.

Zusammenfassung

Die soziale Dimension der EU steht am Rande der Bedeutungslosigkeit. Auf praktisch allen Ebenen hat eine systematische Schwächung des sozialen Europas stattgefunden: Ziele, Programme und Instrumente wurden reduziert – und zwar in allen Feldern: von der Beschäftigungspolitik über das Arbeitsrecht bis zu den Arbeitsbeziehungen. Damit fällt die EU hinter bereits erreichte Errungenschaften zurück. Verlierer dieser Entwicklung sind die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften in den Mitgliedstaaten. Es werden drei Handlungsempfehlungen zur Stärkung der sozialen Dimension im Rahmen der bestehenden Verträge gegeben.[1]

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1. Warum Linke und Rechte am „sozialen Europa“ nicht vorbeikommen

Die einen haben Angst um ihre nationalen Errungenschaften, die anderen glauben, dass eine starke soziale Dimension das wirtschaftliche Ende der EU im globalen Wettbewerb bedeutet. Auch in der Wissenschaft wird mit wechselseitigem Verweis auf den historischen Materialismus und Institutionalismus die soziale Dimension allzu schnell zum Phantasma erklärt. Wer sollte in dieser Situation ernsthaft von der sozialen Dimension sprechen wollen?
Jacques Delors‘ Einsicht, dass sich niemand in den Binnenmarkt verlieben könne, gilt genauso für den Euro. Aber auch wer nicht viel von einer emotional geleiteten Politik hält, muss feststellen, dass die ökonomische Integration von der Funktionsweise der sozialen Institutionen im nationalen Raum nicht zu trennen ist.
Auf der einen Seite schränken die europäischen Kriterien für die nationale Budgetpolitik den Spielraum für die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik immer stärker ein. Auf der anderen Seite können die EU-Kommission und der Europäische Rat über das gestärkte Defizitverfahren und das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren im Rahmen des Europäischen Semesters in fast alle Bereiche der nationalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eingreifen.
Auch die vier Grundfreiheiten der EU, insbesondere die Personenfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit, haben direkte Auswirkungen auf nationale Arbeitsmärkte und Wohlfahrtsstaaten. Im Bereich der Arbeitnehmermobilität hat die EU ausgewiesene Kompetenzen, die hier teilweise zu weitgehenden rechtlichen Vorgaben führen. Im Fall der Entsendung von Arbeitnehmern entstanden zum Beispiel durch die Rechtsprechung des EuGH weitreichende Folgen für das Arbeitskampfrecht.[2]

2. Die Uhr wurde zurückgedreht: Die soziale Dimension wird abgewickelt

Vertraglich liegen die Kompetenzfelder der Gemeinschaft überwiegend im wirtschaftspolitischen Bereich. Zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumenten besteht eine „konstitutionelle Asymmetrie“ (Scharpf 2002). Hinzu kommt, dass Unterschiede in nationalen Wohlfahrtsstaaten eine gemeinsame Interessenvertretung insbesondere der Arbeitnehmerschaft auf europäischer Ebene erheblich erschweren.
Neben diesen strukturellen Herausforderungen hängt die soziale Dimension jedoch auch wesentlich von der politischen Konjunktur ab. Die letzten groβen Integrationsschritte, wie die Einführung des Binnenmarkts und der gemeinsamen Währung, wurden sozialpolitisch mit der »Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer« und dem Sozialprotokoll des Vertrags von Maastricht flankiert. Seitdem gibt es auf der primärrechtlichen Ebene keine nennenswerten Fortschritte, mit Ausnahme der Grundrechtecharta, die in den Vertrag von Lissabon (2007) aufgenommen wurde.
Die soziale Dimension war zwar stets in der Integrationspolitik nachgestellt. Im Zuge der Eurokrise hat sich diese Schieflage jedoch merklich verschärft. Den weitreichenden rechtlichen Neuerungen zur verstärkten Koordinierung der Wirtschaftspolitik wurde bisher kein nennenswertes sozialpolitisches Instrument an die Seite gestellt.
Dem nicht genug: Die Anfang der 1990er Jahre eingeführten Instrumente wurden von den EU-Mitgliedstaaten und insbesondere der EU-Kommission zu einer Schwächung der sozialen Dimension umgekehrt. Zunächst hat die EU-Kommission bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begonnen, der verbindlichen Rechtssetzung im sozialpolitischen Bereich weniger Bedeutung beizumessen. Dies ist auch auf einen nachhaltigen ideellen Wandel zurückzuführen (Schellinger 2015). Statt Rechtssetzung über die Gemeinschaftsmethode gewannen mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) unverbindliche Politikempfehlungen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) und der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) die Oberhand.
Auch der soziale Dialog wurde auf EU-Ebene empfindlich geschwächt. Laut Sozialprotokoll des Vertrags von Maastricht (1992) können die Sozialpartner rechtlich verbindlich Abkommen beschlieβen. Während in den 1990er Jahren noch mehrere Abkommen verabschiedet wurden, entstanden seit der Jahrtausendwende fast ausschlieβlich unverbindliche Vereinbarungen. Aus der quasi-legislativen Funktion des sozialen Dialogs wurde eine vornehmlich beratende Rolle.

Politikfeld Instrument Methode Rechtliche Grundlage
Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik Unverbindliche und verbindliche Empfehlungen Offene Methode der Koordinierung/ Europäisches Semester Art. 145-150 (AEUV)/ Fiskalpakt; Sixpack
Arbeitsrecht Richtlinien und Verordnungen Gemeinschaftsmethode Art. 151-161, (AEUV); Grundrechtecharta
Arbeitsbeziehungen Verbindliche und unverbindliche Abkommen Sozialer Dialog Art. 151-161, (AEUV); Grundrechtecharta

Tabelle 1: Politikfelder und Instrumente der sozialen Dimension

3. Weiterentwicklung der sozialen Dimension

A) Die Beschäftigungspolitik im Europäischen Semester

Mit Blick auf die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semester ist bezeichnend, dass ca. die Hälfte aller arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten im Jahr 2013 auf rechtliche Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts beziehungsweise des makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens gestützt wurden; insbesondere letzteres kann »praktisch alle« arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen abdecken, zum Beispiel im Bereich der Armutsbekämpfung, der aktiven Arbeitsmarktpolitik und der Bildungs-, Renten- und Gesundheitssysteme (Bekker 2015: 12, 16).
Weil damit Sanktionsmechanismen verbunden werden können, verleiht das den Empfehlungen mehr Gewicht, schränkt aber den Handlungsspielraum sozialpolitischer Akteure signifikant ein. So besteht keine gleichwertige Beteiligung zwischen den Ratsarbeitsgruppen des ECOFIN-Rats[3], insbesondere dem Wirtschafts- und Finanzausschuss sowie dem Ausschuss für Wirtschaftspolitik, und den Ratsarbeitsgruppen des EPSCO-Rats[4], insbesondere dem Beschäftigungsausschuss und dem Ausschuss für Sozialschutz (Zeitlin/Vanhercke 2014: 46–51). Dies führt dazu, dass zum Beispiel im Bereich der Rentensysteme der Rat der Finanzminister und nicht der Rat der Arbeitsminister tonangebend ist.

Für eine EU-Arbeitsmarktstrategie der Arbeits- und Sozialminister

Ein wesentlicher Teil der EU Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird gegenwärtig über die wirtschaftspolitischen Leitlinien gesteuert, die sich auf die neuen Instrumente der Economic Governance stützen können. Die von den Arbeits- und Sozialministern beschlossenen Leitlinien beschränken sich hingegen überwiegend auf den beschäftigungspolitischen Bereich mit Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung, der Fort- und Weiterbildung und der sozialen Eingliederung (Rat der Europäischen Union 2010/707/EU).
Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Empfehlungen sollten von den Arbeits- und Sozialministern – und nicht wie bisher von den Wirtschafts- oder Finanzministern – beschlossen werden. Dafür ist eine thematische Ausweitung der »beschäftigungspolitischen Leitlinien« hin zu »arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Leitlinien« notwendig. Empfehlungen, die sich auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt beziehungsweise das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren berufen, müssen dann auch von Arbeits- und Sozialministern verabschiedet werden. Aus rechtlicher Sicht einfacher umzusetzen wäre es zunächst, wenn die Arbeits- und Sozialminister in »ihren« Leitlinien jene der wirtschaftspolitischen Akteure zur Lohnpolitik und den Sozialsystemen direkt aufgreifen.

B)  Die nachgeordnete Rolle des europäischen Arbeitsrechts

Die erfolgreiche Rechtsetzung hängt neben den vertraglichen Grundlagen wesentlich von der politischen Dynamik ab. Damit ist sowohl die Rolle der Mitgliedstaaten als auch die der Europäischen Kommission gemeint. Historisch gibt es dafür zwei bezeichnende Beispiele: Ein wichtiger Teil des europäischen Arbeitsrechts stammt mit den drei Richtlinien über Massenentlassungen, den Schutz der Rechte bei Unternehmenstransfers sowie bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers bereits aus den 1970er Jahren. Die soziale Dimension gewann unter der Überschrift einer »Gemeinschaft mit menschlichem Gesicht« auch mit der politischen Unterstützung des damaligen Bundeskanzlers Deutschlands Willy Brandt an Bedeutung (Kenner 2003: 23–70).
An Dynamik gewann die soziale Dimension auch 1989 mit dem sozialpolitischen Aktionsprogramm der Europäischen Kommission unter Führung von Jacques Delors, das sich politisch auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus demselben Jahr und rechtlich auf die Einheitliche Europäische Akte aus dem Jahr 1986 stützte. Es wird auch in kritischen Bereichen als Erfolg gewertet und führte im Ergebnis zu sieben Richtlinien, zum Beispiel in den Bereichen Jugendarbeitsschutz, Sicherheit und Gesundheit von atypisch Beschäftigten und Arbeitszeit (Falkner 1998: 204).
Seit Mitte der 1990er Jahre ist jedoch zu beobachten, wie die Rechtsetzung über die Gemeinschaftsmethode im Bereich der sozialen Dimension kontinuierlich an Aufmerksamkeit verloren hat. Das lange als unzulänglich kritisierte EU-Recht galt der Europäischen Kommission plötzlich als »solide Basis«; neue legislative Vorschläge wurden als unnötig erachtet (Europäische Kommission 1994: 5; 2006). Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass mit zunehmenden vertraglichen Kompetenzen die Maßnahmen im Bereich der sozialen Dimension ab- und nicht zunahmen.

Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit und europäische Mindeststandards

Für die Bereiche, in denen weiterhin Einstimmigkeit erforderlich ist, bietet sich das Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit an, das gerade auch im Hinblick auf die soziale Dimension eingeführt wurde. Mittels dieses Verfahrens kann eine Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten gemeinsame Regelungen einführen, ohne dass sich die anderen Staaten daran beteiligen müssen. Barnard und De Baere nennen drei Bereiche, in denen das Verfahren zur Anwendung kommen kann. Erstens: Auf Basis von Art. 153, 1 (AEUV[5]) können so Mindestanforderungen für nationale Arbeitslosenversicherungen definiert werden. Zweitens: Arbeitnehmerrechte in der Richtlinie zu Unternehmensverlagerungen können ausgeweitet werden. Drittens: Für nationale Arbeitsmarktreformen kann ein Finanzierungsinstrument eingerichtet werden (Barnard/De Baere 2014: 41–42).
Anders als bei Mindestlöhnen wird die rechtliche Grundlage für europäische Mindeststandards für nationale Mindestsicherungssysteme positiv bewertet (Van Lancker 2010). Durch eine Rahmenrichtlinie können Standards für die Mindestsicherung festgelegt werden. Fragen der Organisation und Finanzierung der sozialen Sicherung verbleiben im Kompetenzbereich der einzelnen Mitgliedstaaten; das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip bleiben gewahrt. Anders als beim Mindestlohn haben die Gewerkschaften sich eindeutig für die Einführung europäischer Grundsätze für die soziale Mindestsicherung ausgesprochen (ETUC 2013). Eine Initiative würde also auch auf politische Unterstützung treffen.

C) Der soziale Dialog als Feigenblatt

Quasi-legislative Kompetenzen wurden mit dem Sozialprotokoll von Maastricht (1992) eingeführt (Art. 155, AEUV). Zudem haben die Sozialpartner bei fast allen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen der EU-Kommission ein Anhörungsrecht (Art. 154, AEUV). Schließlich wurde mit dem Vertrag von Lissabon (2007) der dreigliedrige Sozialgipfel eingeführt, der die Abstimmung zwischen Sozialpartnern, Rat und EU-Kommission verbessern soll (Art. 152, AEUV). Auf Basis dieser vertraglichen Bestimmungen entstanden auf EU-Ebene drei branchenübergreifende Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern, die durch Richtlinien in geltendes Recht umgesetzt wurden. Dazu gehören die Rahmenvereinbarungen über Elternurlaub (1995), Teilzeitarbeit (1997) und befristete Arbeitsverträge (1999).
Mit der Richtlinie über Europäische Betriebsräte aus dem Jahr 1994 wurde im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung eine wichtige Hürde genommen. Es folgte eine überarbeitete Version im Jahr 2009. Die europäische Mitbestimmung (betrieblich) ist nur in Teilen mit dem österreichischen und deutschen System vergleichbar, weil sie weitgehend auf Informations- und Konsultationsrechte beschränkt ist (Streeck 1997). Den europäischen Betriebsräten, mittlerweile ca. 1 214 an der Zahl, wird jedoch in der transnationalen Interessenvertretung von Arbeitnehmern eine entscheidende Rolle beigemessen (Eurofound 2015).
Mit zunehmender Bedeutung der weichen Koordinierung durch die EBS/OMK hat die EU-Kommission jedoch im Rahmen des sozialen Dialogs die freiwillige Kooperation zwischen den Sozialpartner in den Vordergrund gestellt. Die Vereinbarungen ab dem Jahr 2000 wurden überwiegend nicht in gesetzliche Vorgaben umgesetzt. Damit ist eine effektive Umsetzung in den Mitgliedstaaten ungleich schwieriger (Smismans 2008). Die zweite wesentliche Schwächung des sozialen Dialogs auf nationaler Ebene setzte mit der EU-Krisenpolitik ein. Mit der Dezentralisierung der Lohnfindungssysteme durch Firmentarifverträge, Öffnungsklauseln etc. in den südeuropäischen Ländern wurden die Gewerkschaften empfindlich geschwächt (Schulten/Müller 2013). Das Europäische Semester – ähnlich wie die OMK der Europäischen Beschäftigungsstrategie – ist grundsätzlich auf nationale Regierungsorganisationen ausgerichtet. Die Sozialpartner nehmen in diesem System eine nachgeordnete Rolle ein.

Europäische Arbeitsbeziehungen als Schlüssel zu einem sozialen Europa

Hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens muss der soziale Dialog wieder verstärkt zum Abschluss rechtlich verbindlicher Maßnahmen genutzt werden. Dafür können insbesondere die branchenübergreifenden Vereinbarungen aus den 1990er Jahren als Beispiel dienen. Diese können jedoch nur abgeschlossen werden, wenn die EU-Kommission eine proaktive Haltung einnimmt und Anreize insbesondere für die Arbeitgeber setzt.
Bei der Ausweitung der Mitbestimmung vertreten nationale Gewerkschaften eine vergleichsweise einheitliche Position (Busemeyer et al. 2008: 447–448). Die Mitbestimmung über Aufsichtsräte in den Unternehmen in ganz Europa hat mit einer historischen Einigung innerhalb des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) im Oktober 2014 großen Aufwind bekommen (Bonse 2014). Der EGB fordert die »Einführung einer neuen Richtlinie für die Beteiligung der Arbeitnehmer in den europäischen Gesellschaftsformen« mit »Mindeststandards zur Unternehmensmitbestimmung« (EGB 2014: 2). Dadurch würde die Mitbestimmung auch in jenen Mitgliedstaaten gestärkt werden, die bisher kein vergleichbares System haben.

4. Fazit

Die Entwicklung der sozialen Dimension blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Obwohl die Gemeinschaft Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in der Beschäftigungspolitik, im Arbeitsrecht und in den Arbeitsbeziehungen wichtige Kompetenzen hinzugewonnen hatte, wurde die soziale Dimension empfindlich geschwächt.
Das europäische Arbeitsrecht verlor durch die unverbindlichen Politikempfehlungen der Europäischen Beschäftigungsstrategie und ihrer Methode der Offenen Koordinierung an Bedeutung. Die Beschäftigungsstrategie selbst wurde im Zuge der Eurokrise als Teil der wirtschaftspolitischen Koordinierung den Wirtschafts- und Finanzministern zugeordnet – ohne dass die Sozialpartner strukturell einbezogen wurden. Der soziale Dialog auf EU-Ebene erfüllt die ihm eigentlich zugedachte quasi-legislative Funktion kaum noch, sondern dient der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten scheinbar vornehmlich zu Legitimationszwecken.
Die Eurokrise droht sich dadurch auszuzeichnen, dass bedeutenden wirtschaftspolitischen Integrationsschritten zum ersten Mal in jüngster Vergangenheit keine nennenswerten sozialpolitischen Instrumente zur Seite gestellt wurden. Im Gegenteil, das Europäische Semester ordnet die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – übrigens auch Bereiche, die eigentlich aus den EU-Verträgen ausdrücklich ausgenommen bleiben – wirtschafts- und finanzpolitischen Vorgaben unter.
Anders als viele glauben machen wollen, ist die soziale Dimension aber nicht zum Scheitern verurteilt. Im Europäischen Semester müssen die Arbeits- und Sozialminister zusammen mit den Sozialpartnern – und nicht die Wirtschafts- und Finanzminister im Alleingang – bei ihren Hausthemen federführend sein. Das europäische Arbeitsrecht kann durch das Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit zur Etablierung von Mindeststandards zum Beispiel für nationale Arbeitslosenversicherungen oder Mindesteinkommen eingesetzt werden. Ein soziales Europa hängt letztendlich von einer effektiven Interessenvertretung der Arbeitnehmer ab. Dafür ist eine echte europäische Mitbestimmung genauso wie der soziale Dialog auf EU-Ebene mit echten Entscheidungsbefugnissen unabdingbar.

5. Bibliographie

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Bekker, S. (2015). European socioeconomic governance in action: Coordinating social policies in the third European Semester. Brussels: European Social Observatory.
Bonse, E. (2014). Mitbestimmung: Historischer Durchbruch. Abgerufen am 05.03.2015, www.boeckler.de
Busemeyer, M. et al. (2008): Overstretching solidarity? Trade unions’ national perspectives on the European Economic and Social model. Transfer. The European Review of Labour and Research 14(3), 435-452.
Eurofound. (2015). European industrial relations dictionary. Abgerufen am 02.03.2015, www.eurofound.europa.eu
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Kenner, J. (2003). EU employment law: From Rome to Amsterdam and beyond. Oxford: Hart Publishing.
Rat der Europäischen Union (2010a). Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten. (2010/707/EU).
Scharpf, F. (2002). The European social model. Journal of Common Market Studies, 40(4), 645-670.
Schellinger, A. (2015). EU labor market policy: Ideas, thought communities and policy change. Basingstoke: Palgrave Macmillan. [im Erscheinen]
Schulten, T. & Müller, T. (2013). Ein neuer europäischer Interventionismus? Die Auswirkungen des neuen Systems der europäischen Economic Governance auf Löhne und Tarifpolitik. Wirtschaft und Gesellschaft, 3, 291-322.
Smismans, S. (2008). The European social dialogue in the shadow of hierarchy. Journal of Public Policy, 28(01), 161-180.
Streeck, W. (1997). Neither European nor works councils: A reply to Paul Knutsen. Economic and Industrial Democracy, 18(2), 325-337.
Van Lancker, A. (2010). Working document on a Framework Directive on Minimum Income. Brussels: European Anti-Poverty Network.
Zeitlin, J. & Vanhercke, B. (2014). Socializing the European Semester? Economic governance and social policy coordination in Europe 2020. Stockholm: Swedish Institute for European Policy Studies.

1) Dieser Policy-Brief beruht auf der Studie: “Wie sozial ist die EU? Eine Perspektive für die soziale Dimension”, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. [Link: library.fes.de/pdf-files/id/ipa/11326.pdf ]
2) Zu den Urteilen des EuGHs in den Fällen Viking und Laval siehe: Joerges/Rödl 2009.
3) Rat für Wirtschaft und Finanzen
4) Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
5) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Schellinger, A. (2015). Zurück in die Zukunft: Perspektiven für ein soziales Europa. ÖGfE Policy Brief, 23’2015

Dr. Alexander Schellinger

Dr. Alexander Schellinger hat in New York und London Politikwissenschaft studiert und wurde an der Universität Bremen zur Europäischen Beschäftigungspolitik promoviert. Er arbeitet als Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Im Herbst erscheint sein Buch: "EU Labor Market Policy: Ideas, Thought Communities and Policy Change".