Die Fallen des Zauberlehrlings Cameron (Gastkommentar Paul Schmidt, Der Standard)

Um den Brexit zu verhindern, wird die EU London gegenüber manches Zugeständnis machen. Nicht alle Sonderstellungen könnten sich jedoch für Großbritannien von Vorteil erweisen.
Das Dreh­buch ist schon lan­ge ge­schrie­ben. Beim Tref­fen des Eu­ro­päi­schen Rats in Brüs­sel am 18. und 19. Fe­bru­ar soll es ei­nen Ge­win­ner und 27 Ver­lie­rer ge­ben. Die Ver­lie­rer wol­len es so. Sie ver­su­chen da­mit zu ret­ten, was noch zu ret­ten ist. Groß­bri­tan­nien soll EU-Mit­glied blei­ben. Kri­sen gibt es auch so schon zur Ge­nü­ge. Die EU-Part­ner wol­len der bri­ti­schen Re­gie­rung ent­ge­gen­kom­men, ei­ne po­si­ti­ve Stim­mung im Hin­blick auf das Re­fe­ren­dum über die bri­ti­sche EU-Mit­glied­schaft er­mög­li­chen und da­mit Pre­mier­mi­nis­ter Ca­me­ron das po­li­ti­sche Über­le­ben si­chern.
Ob das Ver­hand­lungs­er­geb­nis tat­säch­lich aus­reicht, um all die­se Zie­le zu er­rei­chen, wird man se­hen. Letzt­lich wer­den aber auch eu­ro­päi­sche Zu­ge­ständ­nis­se auf manch rea­li­täts­fer­ne For­de­rung aus Lon­don nicht we­sent­lich kon­kre­ter aus­fal­len kön­nen als je­ne Kom­pro­mis­se, die der­zeit auf dem Ver­hand­lungs­tisch lie­gen.
Der De­al mit dem Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich ist näm­lich vor al­lem ei­nes: ein Pla­ce­bo. Ein Ver­such, den von Lon­don ge­wünsch­ten bri­ti­schen Son­der­sta­tus in po­li­ti­schen Wil­lens­er­klä­run­gen zu un­ter­mau­ern, oh­ne eu­ro­päi­sche Grund­sät­ze über Bord zu wer­fen, oder, wie von Groß­bri­tan­nien ge­wünscht, wei­trei­chen­de Re­for­men zu ini­ti­ie­ren, oh­ne sie je­doch ge­nau­er zu de­fi­nie­ren,
In dem Ver­ein­ba­rungs­ent­wurf mit Lon­don sum­miert sich das Er­geb­nis ei­ner Viel­zahl von Schein­de­bat­ten über die De­fi­ni­ti­ons­ho­heit des EU-Ver­trags – dies be­trifft den wei­te­ren eu­ro­päi­schen In­teg­ra­ti­ons­weg, den Bü­ro­kra­tie­ab­bau und ab­strak­te le­gis­la­ti­ve Ein­spruchs­mög­lich­kei­ten na­tio­na­ler Par­la­men­te, die Be­to­nung des Bin­nen­mark­tes und die Wett­be­werbs­fä­hig­keit so­wie ei­ne „fai­re“ Be­hand­lung von EU-Mit­glie­dern, de­ren Wäh­rung nicht der Eu­ro ist. Der aus bri­ti­scher Sicht wich­tigs­te und aus eu­ro­päi­scher Sicht hei­kel­ste Punkt be­rührt al­ler­dings die sen­si­ble Fra­ge der Bin­nen­mig­ra­ti­on, der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit und da­mit das An­recht von EU-Ar­beit­neh­mern auf So­zi­al­leis­tun­gen in Groß­bri­tan­nien.
Schutz­me­cha­nis­men
Groß­bri­tan­nien, in der Fol­ge auch al­len an­de­ren Mit­gliedss­taa­ten, wird zu­ge­stan­den, in Aus­nah­me­fäl­len ei­nen Schutz­me­cha­nis­mus be­an­tra­gen zu kön­nen. Bei­trags­freie So­zi­al­leis­tun­gen sol­len für EU-Ar­beit­neh­me­rIn­nen für bis zu vier Jah­re be­grenzt wer­den. Auf bri­ti­schen An­trag, der mit Da­ten und Zah­len die Aus­nah­me­si­tua­ti­on be­le­gen muss, wür­de die EU-Kom­mis­si­on ini­ti­ativ wer­den und letzt­lich der Rat der EU ent­schei­den. Die Maß­nah­me wä­re zeit­lich be­grenzt, der Zu­gang zu So­zi­al­leis­tun­gen wür­de in die­sem Zeit­raum gra­du­ell an­stei­gen.
Tat­säch­lich ist es aber so, dass die Zahl je­ner EU-Mig­ran­ten, die in den er­sten Jah­ren ih­res Ar­beits­le­bens So­zi­al­leis­tun­gen be­zie­hen, re­la­tiv ge­ring ist. Die bud­ge­tä­ren Ef­fek­te die­ser Maß­nah­me wer­den sich da­her in Gren­zen hal­ten. Wei­ters wird da­von aus­ge­gan­gen, dass die So­zi­al­leis­tun­gen das ei­gent­li­che Haupt­mo­tiv für die Zu­wan­de­rung von EU-Bürg­er­In­nen in den bri­ti­schen Ar­beits­markt wä­ren. Eben­falls ein Trug­schluss.
Soll­ten die EU-Mit­glieds­län­der dem der­zei­ti­gen Ent­wurf in die­ser Form zu­stim­men, stellt sich zu­dem die Fra­ge, ob der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof ihn nicht als Un­gleich­be­hand­lung und Dis­kri­mi­nie­rung aus­le­gen wird. Ist es das Ziel, die Bin­nen­mig­ra­ti­on zu re­du­zie­ren und das So­zi­al­bud­get zu ent­las­ten, könn­ten die Er­geb­nis­se letz­tend­lich doch eher be­schei­de­ner aus­fal­len als er­war­tet und die ge­plan­ten Maß­nah­men re­la­tiv schnell Schiff­bruch er­lei­den.
Üb­ri­gens könn­te ei­ne et­wai­ge An­pas­sung der Kin­der­bei­hil­fe für EU-Mig­ran­ten, de­ren Kin­der in ei­nem EU-Land le­ben, in dem die Le­bens­er­hal­tungs­kos­ten ge­rin­ger sind, den ver­meint­li­chen Mig­ra­ti­ons­druck Rich­tung In­sel so­gar noch er­hö­hen, an­statt die So­zi­al­aus­ga­ben mas­siv zu re­du­zie­ren. Aber da­rum geht es in Wirk­lich­keit in die­ser auf­ge­heiz­ten De­bat­te gar nicht mehr. Und all das wird man so­wie­so erst lang nach dem ab­ge­hal­te­nen Re­fe­ren­dum über die EU-Mit­glied­schaft Groß­bri­tan­niens fak­tisch be­le­gen kön­nen.
Ent­schei­dend scheint viel­mehr, dass man in die­ser Run­de als Ge­win­ner nach Hau­se fährt. Wo­mög­lich zu kurz ge­dacht, Herr Pre­mier­mi­nis­ter. Die Geis­ter, die Sie rie­fen, die wer­den Sie so schnell nicht mehr los.
Paul Schmidt – Ge­ne­ral­se­kre­tär der Ös­ter­rei­chi­schen Ge­sell­schaft für Eu­ro­pa­po­li­tik, 06.02.2016