BREXIT und Österreich

Wie sollte Österreich reagieren?

Handlungsempfehlungen

  1. Intensivierung der öffentlichen Debatte über einen möglichen BREXIT in Österreich
  2. Vorbereitung einer österreichischen Position für künftige UK-Verhandlungen und Suche nach Gleichgesinnten
  3. Aufklärung der Bevölkerung über wirtschaftliche und politische Auswirkungen

Zusammenfassung

Die Debatte im Vereinigten Königreich wird immer vehementer und konzentriert sich auf wirtschaftliche Auswirkungen und auf die Frage der “Wiedergewinnung der Souveränität”, vor allem in Bezug auf Immigration. Aufgrund des relativ geringen Handelsvolumens mit Österreich dürften – mit Ausnahmen – die Auswirkungen eines Austritts auf Österreich wirtschaftlich gering sein; viel gravierender jedoch ist die Signalwirkung auf separatistische Kräfte in ganz Europa. Eine österreichische Vorbereitung auf einen möglichen BREXIT fehlt.

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BREXIT und Österreich

Wie sollte Österreich reagieren?

Die britische Debatte

Die britischen Medien berichten jeden Tag über neue Studien zum britischen EU-Austritts-Referendum am 23. Juni 2016. Die Debatten werden immer hitziger und enden zum Teil in mehr oder weniger skurrilen Aussagen (etwa im Vergleich der EU mit Nazi-Deutschland durch den früheren Londoner Bürgermeister und Konkurrenten Camerons um die Tory-Führerschaft, Boris Johnson). Je näher der Termin rückt, desto stärker schlagen Befürworter und Gegner des Austritts aufeinander ein.

Bisher ging es den Befürwortern primär um wirtschaftliche Argumente.

Bisher ging es den Befürwortern primär um wirtschaftliche Argumente (Großbritannien als „Händlernation“). Sie rechneten vor, dass ein Austritt jede Familie 4.300 Pfund pro Jahr[1] kosten würde, dass das Wachstum zurückginge, und vor allem, dass Großbritannien nach einem Austritt erst einen Prozess der Selbstfindung starten und schwierige Verhandlungen mit der EU aufnehmen müsste, um seinen künftigen Status zu vereinbaren. Dass dabei die Rest-EU nicht unbedingt freundlich mit den – ein Tabu gesprengt habenden – Briten umgehen würde, scheint ihnen wahrscheinlich. Der (aus Kanada stammende) Notenbankchef Carney[2] rechnet mit tiefer Depression und Rezession, viele Unternehmer und die Labour Party mit lang andauernder Unsicherheit „auf den Märkten“ und damit gegenteiligen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. OECD, EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds haben mit eigenen Studien diese Befürchtungen unterstützt und warnen vor einem Austritt. Das separationswillige Schottland droht mit einem neuen Unabhängigkeitsreferendum im Falle einer Mehrheit der Austritts-Befürworter, weil es in der EU bleiben wolle. Wales und Nordirland machen ebenfalls EU-freundliche Töne. Resultat könnte ein „Klein-England“ sein – nach dem Verlust der Kolonien und den geringen Einflussmöglichkeiten im Commonwealth ein Alptraum für die englische Mittel- und Oberschicht. Auch das benachbarte Irland fürchtet um Handelsbeschränkungen durch seinen wichtigsten Partner. Ob sich Cameron dieses Szenario überlegt hat, als er vor zwei Jahren seinen EU-skeptischen Hinterbänklern zur Beruhigung die Abhaltung des Referendums offeriert hat? In der Zwischenzeit sind fünf seiner Minister in den ersten Reihen der Austritts-Befürworter, viele nicht-deklarierte Parlamentarier und Minister kann Cameron nur mit großem Aufwand davon abhalten, öffentlich Farbe zu bekennen.

Die Austrittsbefürworter tun all diese Szenarien als Panikmache ab und versprechen den Briten bei einem Austritt (fast) das Paradies auf Erden.

Die Austrittsbefürworter („Brexiteers“ laut Financial Times) tun all diese Szenarien als Panikmache ab und versprechen den Briten bei einem Austritt (fast) das Paradies auf Erden. Sie betonen hauptsächlich die hoch gespielte „Wiedergewinnung der Souveränität“, und damit vor allem die Möglichkeit, die ungeliebte Einwanderung von EU-BürgerInnen ins gelobte UK stoppen zu können. Darüber hinaus träumen sie von einer deregulierten Wirtschaft, die nicht mehr durch als hinderlich betrachtete soziale und ökologische Beschränkungen der EU in ihrer freien Entfaltung gehemmt wäre, sowie die Erlösung von der den freien Volkswillen einschränkenden europäischen Menschenrechtskonvention, die dem Königreich verboten hätte, Hassprediger auszuweisen. Und dann geht es auch darum, nicht mehr der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofes unterworfen zu sein. Und natürlich werden von den BREXIT-Befürwortern die Beiträge an das EU-Budget als Argument angeführt. Hier hat sich das Königreich schon seit Jahrzehnten als Nettozahler (gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden und anderen) zum Wortführer von EU-Budgetbeschränkungen gemacht und durch den von Ms. Thatcher herausgehandelten Rabatt („I want my money back!“) auch für sich Erfolge erzielt, welche die anderen Länder nicht annähernd lukrieren konnten. Die meisten Studien zeigen aber, dass das Vereinigte Königreich netto, also über zusätzliches Wirtschaftswachstum und Exporterlöse (etwa die Hälfte der UK-Exporte geht in den Rest der EU) von der EU deutlich stärker profitiert als es durch die Budgetzahlungen verliert.

Verhältnis EU-UK nach Erfolg der Austrittsbefürworter

Da sich die BREXIT-Befürworter bisher über das mögliche Modell der UK-Annäherung an die EU (Schweiz, Norwegen oder Albanien-Modell) ausschweigen, könnte den Briten bei einem für die Austreter erfolgreichem Referendum noch eine große Überraschung bevorstehen: die Schweiz („autonomer Nachvollzug“) zahlt und muss für ihre Teilnahme am Binnenmarkt unter anderem freien Zugang von EU-BürgerInnen zum Arbeitsmarkt garantieren; die Teilnahme am Binnenmarkt, auch am gemeinsamen Forschungsraum kostet Norwegen und die Schweiz Geld, sie müssen die Regeln akzeptieren, ohne dass sie bei deren Beschlussfassung mitreden können.

Da sich die BREXIT-Befürworter bisher über das mögliche Modell der UK-Annäherung an die EU ausschweigen, könnte den Briten bei einem für die Austreter erfolgreichem Referendum noch eine große Überraschung bevorstehen.

Im grundsätzlich strategieschwachen Österreich gibt es von offizieller Seite bisher keine Szenarien zum BREXIT[3]. Offenbar will man abwarten, wie das Referendum ausgeht. Was könnte also bei einem BREXIT-Votum passieren? Worauf müsste Österreich sich bereits jetzt vorbereiten?

Auswirkungen auf Österreich und die EU: Wirtschaft

Im Außenhandel tut sich zwischen Österreich und dem UK relativ wenig: ca. 3% unserer Ausfuhren gehen ins UK, ca. 2% unserer Importe kommen aus dem UK[4]: das ist zwar nicht sehr viel, aber doch wichtig. Und: für höher technisierte Branchen wie die Maschinen- und Fahrzeugindustrie ist der UK-Markt der siebtgrößte Exportmarkt Österreichs[5].
Österreichische Firmen haben etwa 7 Mrd. Euro im Vereinigten Königreich in die Realwirtschaft investiert[6], die mehr als 100 Tochterfirmen österreichischer Metall- und Maschinenunternehmen beschäftigen dort mehr als 32.000 Arbeitnehmer. Wie sich ein BREXIT auf diese Investitionen auswirkt, hängt von den Verhandlungen post-BREXIT ab.
Je nach Ausgestaltung der UK-Beziehungen zur EU (und da hat Österreich auch ein wichtiges Wörtchen mitzureden), könnte es für ÖsterreicherInnen aber deutlich schwieriger werden, im Vereinigten Königreich zu arbeiten. Da die Beschränkung des EU-Zuzugs eines der Hauptargumente der BefürworterInnen eines BREXIT ist, könnte es hier Probleme geben.
Der neue Leiter des Münchner Ifo-Institut hat für die kontinentalen EU-Länder die Folgen eines BREXIT als „schwerwiegend“ eingeschätzt, für Österreich allerdings relativ geringe – wirtschaftliche – Auswirkungen errechnet[7].

Innerhalb der EU-Entscheidungen würde mit dem UK einerseits ein schwieriger, in vielen Belangen in den letzten Jahren sich abseits haltender Partner wegfallen – jedenfalls würde sich jedoch das Gewicht der Marktliberalen, die immer wieder „Reformen“ einfordern, verringern.

Innerhalb der EU-Entscheidungen würde mit dem UK einerseits ein schwieriger, in vielen Belangen in den letzten Jahren sich abseits haltender Partner wegfallen – jedenfalls würde sich jedoch das Gewicht der Marktliberalen, die immer wieder „Reformen“ einfordern, verringern. Andererseits würde sich der Einfluss Deutschlands vergrößern, wenn die zweitgrößte EU-Ökonomie austräte: angesichts der von vielen Beobachtern (auch vom Autor) als übertrieben, ja sogar für schädlich erachteten Stabilitätsorientierung Deutschlands eher ein Nachteil für Österreich, das (im EU-Vergleich) seit vier Jahren nur mehr unterdurchschnittlich wächst. Vorteilhaft wäre ein Austritt, da damit ein extremer und strikter Verweigerer von Steuerharmonisierung endlich wegfiele, der die Eskalation von Unternehmenssteuern nach unten mit betrieben hat (zuletzt durch „Patentboxen“).
Im Finanzbereich käme es sicher zu einer graduellen Umschichtung von Finanzgeschäften aus London nach Frankfurt und Paris. Für die Befürworter einer (zu schaffenden) „Kapitalmarktunion“, für die sich das Königreich in die Bresche wirft, ein Rückschritt, für die Stärkung des Bankensektors im Finanzbereich ein Positivum. Für Österreich wäre die Verlagerung von Finanzgeschäften auf den Kontinent eher neutral, für die derzeit in London beheimateten österreichischen Banken würde dies aber Schwierigkeiten bedeuten. Das britische Pfund ist im Zuge der Debatte und aufgrund der damit bereits jetzt verursachten Unsicherheiten gefallen, ohne dass dies allerdings die Exporte des Königreiches gestärkt hätte.

Auswirkungen: Politik

Im politischen Bereich würde die EU – und damit Österreich – durch einen Austritt geschwächt und vom östlichen, westlichen und südlichen Ausland jedenfalls als weniger relevant wahrgenommen.

Im politischen Bereich würde die EU – und damit Österreich – durch einen Austritt geschwächt und vom östlichen, westlichen und südlichen Ausland jedenfalls als weniger relevant wahrgenommen. In Bezug auf die für Österreich besonders relevante Balkanpolitik könnte dies zu einer unerwünschten Schwächung beitragen. In diesem Falle wäre Österreich jedenfalls gefordert, seine Balkanpolitik zu verstärken.
Der gravierendste Effekt eines BREXIT wäre ein indirekter: durch einen Sieg der BREXIT-Befürworter würden sich die deutsche AfD, der französische Front National, die FPÖ, die nationalistischen und Anti-EU-Kräfte in Europa gestärkt fühlen. Weitere Referenden könnten folgen. Der deutsche EU-Kommissar Öttinger hat jedenfalls im April (beim deutschen Sparkassentag) den möglichen Zerfall der EU heraufbeschworen, wenn die „Rechtspopulisten“ führend an die Macht kämen, und dabei Österreich als besonders gefährdet hervorgehoben[8]. Ob dies, wie einige sagen, zu einem Zerfall der EU führen würde oder „nur“ eine langfristige Phase der Desintegration und der Unsicherheit einleitete, bleibt Spekulation. Jedenfalls könnte im schlimmsten Fall die Wirtschaft weiter stagnieren und das UK auseinanderbrechen (Schottland hat in diesem Falle ein weiteres Separatismus-Referendum mit pro-EU-Ausrichtung in Aussicht gestellt). Jedenfalls würde durch einen BREXIT den nationalistischen und xenophoben Parteien in Europa der Rücken gestärkt, was „zumindest“ zu einem Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit entsprechenden Folgen führen kann. Dagegen verblassen die Hoffnungen einiger auf einen mit einem Brexit verbundenen stärkeren Integrationsschub der anderen EU-Länder.

Österreichs Agenda

Die wirtschaftlichen Auswirkungen eines möglichen BREXIT für Österreich sind relativ gering. Allerdings bedeutet ein Austritt jedenfalls einen mindestens zwei Jahre dauernden Unsicherheitszeitraum, innerhalb welchen die künftige Position des UK gegenüber der EU verhandelt sein sollte. Dies wird jedenfalls negative Auswirkungen auf österreichische Exporte und auf die im Vereinigten Königreich beheimateten österreichischen Unternehmen und ArbeitnehmerInnen haben.
Gravierender aber werden die politischen Auswirkungen sein. Ein „erfolgreiches“ BREXIT-Referendum wird jedenfalls Wasser auf die Mühlen anderer europäischer EU-Gegner sein, und könnte im schlimmsten Fall einen Exit-Tsunami auslösen. Schon die im Feber von Cameron mit der EU ausgehandelten Privilegien haben den Neid und den Zorn vieler europaskeptischen Parteien und Menschen in anderen Ländern hervorgerufen.
Der bisher in der österreichischen Gesellschaft und im Parlament überwiegende Konsens bezüglich Österreichs EU-Mitgliedschaft (alle Parteien mit unterschiedlichem Gewicht, die Freiheitliche Partei ist in dieser Frage gespalten) könnte durch einen BREXIT, durch ein Erstarken der EU-skeptischen Kräfte inner- und außerhalb der Regierungsparteien, zu bröseln beginnen, und damit die wirtschaftlichen und vor allem politischen Erfolge der letzten 20 Jahre (seit Beginn der EU-Mitgliedschaft) vernichten.

Für einige dieser Auswirkungen könnte und sollte sich das offizielle Österreich schleunigst vorzubereiten beginnen.

Für einige dieser Auswirkungen könnte und sollte sich das offizielle Österreich schleunigst vorzubereiten beginnen. Wir können den Ausgang des Referendums zwar nicht beeinflussen, ein Ja der Austrittsbefürworter wäre aber auch für Österreich jedenfalls mit negativen (wenn auch indirekten) Folgen versehen. Die neue Bundesregierung und der neue Bundespräsident sollten rasch in einen Dialog miteinander, mit der Bevölkerung und mit dem Parlament treten. Nicht nur für Unternehmen, auch für Politikgebilde sind Notfallspläne für gravierende Ereignisse notwendig, will man nicht unvorbereitet von negativen Folgen überrascht werden.

Die teilerneuerte österreichische Bundesregierung könnte mit einer Vorwärtsstrategie zur EU-Wirtschaftspolitik Leadership in Österreich und der EU zeigen. Deren Ziel müsste sein, die Wirtschaftskraft der EU und der Eurozone zu stärken, um so die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und den Europäerinnen und Europäern (und vor allem den ÖsterreicherInnen)  Zuversicht auf eine positive Zukunft zu vermitteln.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Schlagwörter:
Brexit-Debatte in Großbritannien; wirtschaftliche Auswirkungen auf Österreich; politische Auswirkungen auf EU und Österreich
Zitation
Bayer, K. (2016). BREXIT und Österreich: Wie sollte Österreich reagieren? Wien. ÖGfE Policy Brief, 17’2016

Dr. Kurt Bayer

Dr. Kurt Bayer war am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), im Bundesministerium für Finanzen (Gruppenleiter für Wirtschaftspolitik und Internationale Finanzinstitutionen), als Executive Director im Board der Weltbank und als Board Director bei der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London tätig. Er ist Emeritus Consultant am WIFO und Senior Research Associate am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftvergleiche (wiiw). Er verfasst regelmäßig Blogs zu wirtschaftspolitischen Themen: https://kurtbayer.wordpress.com