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Brexit: Britische Fehleinschätzungen (Gastkommentar Paul Schmidt, derStandard.at)

Ohne klare Haltung geht es nicht. Das gilt auch für europäische Grundsatzfragen. Konstruktive Kritik wäre ja wichtig, aber wer über vier Jahrzehnte zulässt, dass die Europäische Integration stets als Sündenbock für alle politischen Verfehlungen dieser Welt herhalten muss und sich noch dazu aktiv an EU-Bashing beteiligt, darf sich nicht wundern. Eine verfestigte öffentliche Meinung zur EU ist in drei Monaten – noch dazu halbherzig – nicht mehr zu drehen.
Die Ausgangslage war von Haus aus nicht rasend gut, wenn innenpolitische und parteistrategische Überlegungen im Vordergrund stehen, wenn selbst das halbe Regierungsteam und über hundert eigene Parlamentarier dem Regierungschef den Rücken kehren und aktiv für den EU-Austritt werben. Die tatsächliche Tragweite der britischen Richtungsentscheidung konnte unter diesen Voraussetzungen nicht mehr transportiert werden.
Unwahrheiten und Angst
Noch dazu war die Referendumsdebatte eine von Unwahrheiten gespickte Scheindiskussion: EU-Nettobeiträge, die nach dem Brexit eins zu eins ins marode Gesundheitssystem fließen sollten, ein unmittelbar bevorstehender EU-Beitritt der Türkei ohne britische Vetomöglichkeit, die glorreiche Wiederauferstehung des britischen Empires und ein Ende der EU-Personenfreizügigkeit bei vollem Zugang zum europäischen Binnenmarkt.
Das Thema Angst stand im Zentrum der Auseinandersetzung. Wirtschaftliche Schreckensszenarien wurden jedoch wesentlich abstrakter wahrgenommen, als jene vor einer ungezügelten Zuwanderung. Den Verfechtern einer EU-Mitgliedschaft fehlte es an Emotion. Weder gab es ein eindeutiges, positives Bekenntnis zum europäischen Projekt, noch das oft proklamierte europäische Leadership. Keine überzeugende Erklärung, warum wir diesen Integrationsweg eigentlich gehen. Dass es besser ist, Streitigkeiten auf dem Verhandlungstisch mit Argumenten auszutragen. Dass Renationalisierung keine Probleme löst und die großen Erfolge der Nationalstaaten auf den heldenhaften europäischen Friedhöfen zu besichtigen sind. Dass es den viel besagten Zentralstaat so nicht gibt, sondern die Mitgliedstaaten die wesentlichen Akteure sind, die jedoch – wie in jeder funktionierenden Gemeinschaft – auch bereit sein müssen, Kompromisse zu schließen. Dass es darum geht, Souveränität zu teilen, um die Globalisierung gestalten zu können. Dass das britische Erfolgsrezept eigentlich die Offenheit der Gesellschaft ist und die Zuwanderung nicht an allem Übel schuld sein kann sondern Großbritannien stark davon profitiert. Dass grenzüberschreitende Probleme eben nur gemeinsam zu lösen sind und global gesehen auch das stolze Großbritannien ein ziemlich kleines Land ist. Und dass sowohl Nordirland als auch Schottland andere, nämlich europäischere, Prioritäten haben.
Brexit-Gewinner ohne Plan
Aber wozu braucht man Fakten, wenn man sich schon längst seine Meinung gebildet hat? Womöglich werden viele Briten erst nach einem EU-Austritt merken, dass etliche der angesprochenen Probleme eigentlich hausgemacht sind. Mittlerweile befindet sich die britische Wirtschaft im Sinkflug und politische Akteure suchen das Weite. Ein Premierminister, der sein Land bis September in Geiselhaft nimmt. Überforderte Brexit-Gewinner ohne Plan und Verantwortungsgefühl. Und politische Spielchen um den verzögerten Beginn möglicher Austrittsverhandlungen, die Millionen Europäer weiter verunsichern.
All das zum “Wohle” Großbritanniens. War es das wirklich wert?