Vermeintlicher Sozialtourismus (Gastkommentar Paul Schmidt, Kurier)

Durch Steuervermeidung entgehen den Mitgliedsstaaten der EU jährlich gigantische 1000 Milliarden Euro an Einnahmen. Während KMUs und Arbeitnehmer ihre Steuern in der Regel dort zahlen, wo sie anfallen, nutzen vor allem multinationale Konzerne rechtliche Lücken bzw. Anreize, um sich der Gewinnbesteuerung zu entziehen. Auch einige EU-Länder stellen ihr Geschäftsmodell nach wie vor darauf ab, steuerschonende Firmenkonstruktionen zu ermöglichen. Der Nutzen der einen geht allerdings auf Kosten der anderen, denen Budgeteinnahmen entzogen werden. Und obwohl unfaire Steuerpraktiken, die nach der Wirtschaftskrise seitens der EU vehementer bekämpft werden, hohe Kosten verursachen, scheint sich das allgemeine politische Interesse daran in Grenzen zu halten.
Viel lieber wird da schon über Zuwanderung nach Österreich diskutiert. Als Folge der Krise ist EU-weit auch die Kluft zwischen Arm und Reich gewachsen und verstärkt die Sogwirkung von vergleichsweise gut funktionierenden Arbeitsmärkten und Sozialsystemen. Hierzulande wird diese Entwicklung in zunehmendem Maß mit „Sozialtourismus“ gleichgesetzt, dem vermeintlichen Zuzug von EU-Bürgern aufgrund vorteilhafter Sozialsysteme.
Die Möglichkeit, auf der Suche nach besseren Lebensumständen EU-Regelungen zum eigenen Vorteil zu nutzen, gibt es. Jeder EU-Bürger hat das Recht, in einem anderen Mitgliedsland zu wohnen und zu arbeiten. Mit Sozialtourismus hat das allerdings wenig zu tun. Laut AMS waren es in Österreich mit Ende 2016 gerade einmal 447 EU-Bürger, die kürzer als drei Monate hier gearbeitet hatten und dank zuhause erworbener Versicherungszeiten finanzielle Ansprüche stellten. Ein Recht auf Mindestsicherung hingegen entsteht erst nach fünf Jahren Aufenthalt, wobei eine Aufenthaltsgenehmigung bei nachweislichem Betrug auch wieder entzogen werden kann.
Kein Vergleich jedenfalls mit jenen Summen, die der EU durch nachhaltig aggressive Steuerplanung entgehen. Trotzdem wird im politischen Diskurs gerne das Gegenteil insinuiert. Kritik an Sozialausgaben für Nicht-Österreicher forciert, Steuertricks in großem Stil werden nicht thematisiert. Mit dem Ergebnis, dass das Misstrauen gegenüber EU-Ausländern überproportional anwächst.
Die Steuerpraktiken einiger großer Konzerne als Nebenschauplatz abzustempeln, heißt jedoch im Grunde, sozial Schwache gegen sozial Schwächere auszuspielen. Schlupflöcher sind überall zu schließen. Aber die tatsächlichen Einnahmenverluste entstehen eben durch internationale Steuervermeidungspraktiken und nicht durch finanzielle Ansprüche von EU-Bürgern. Höchste Zeit also, einem schädlichen Steuerwettbewerb die Geschäftsbasis zu entziehen, mit einem faktenbasierten Diskurs dem Aufbau neuer Feindbilder entgegenzuwirken und dem Motto „Penny wise, Pound foolish“ endlich abzuschwören.