Europas Soziale Dimension – Ziel oder schon Realität?

Handlungsempfehlungen

  1. Die EU soll nur Materien regeln, die einen klaren europäischen Mehrwert bringen, etwa den Binnenmarkt, die vier Grundfreiheiten und fairen Wettbewerb fördern und Standards in ausgewählten Bereichen wie im Arbeitnehmerschutz schaffen, die für alle Mitgliedstaaten gelten.
  2. Soziale Herausforderungen, wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Nachhaltigkeit der Sozialsysteme müssen nicht in allen Mitgliedstaaten auf dieselbe Weise gemeistert werden. Im Wege des europäischen Semesters können unterschiedliche Ziele in und außerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion verfolgt werden.
  3. Sozialpolitik ist auch auf EU-Ebene keine Einbahnstraße. Sozialer Zusammenhalt und Schutzstandards sind ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und Staatshaushalte, funktionierende Arbeitsmärkte und die Behauptung der EU im Wettbewerb. Das kann auch soziale Einschnitte erfordern.

Zusammenfassung

Die EU ist bereits sozial. Ihre zentralen Ziele, die Kohäsion und die Konvergenz der EU-Staaten sind in erster Linie wirtschaftlich inspiriert, wirken aber sozial. Dasselbe gilt für die vier Grundfreiheiten, insbesondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit, und die Umverteilung von reicheren zu ärmeren Ländern. Auch wenn die Krise 2008/09 für einzelne Länder Rückschläge brachte, haben im Langzeitvergleich ärmere Länder und ihre Bürger durchwegs aufgeholt, aber auch reichere Länder und ihre Bürger profitiert.
Das europäische Sozialmodell ist im Globalvergleich bereits durch massive Umverteilung, dichte Gesetzgebung und hohe Sozialausgaben geprägt. Zusätzlich hat das EU-Recht etwa im Arbeitnehmerschutz, in der Arbeitszeit und der Gleichbehandlung die soziale Lage der EU-Bürger verbessert.
Doch fehlt das Bewusstsein bei Bürgern, Politikern und Medien, dass die EU und ihre Mitglieder im Vergleich mit den USA, Japan oder Russland bereits sehr sozial sind. Bekanntlich wird Negatives gern Brüssel zugeschrieben, Positives gern national „verkauft“. Es ist dieses „Kommunikationsdefizit“, das zu EU-Verdrossenheit führt, nicht mangelnde europäische Sozialgesetzgebung.
Die Herausforderungen, die fast alle EU-Staaten treffen, erfordern einen differenzierten Zugang. Sozialpolitik ist auch auf EU-Ebene keine Einbahnstraße. Zusammenhalt und Schutzstandards sind ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und Staatshaushalte, das Funktionieren der Arbeitsmärkte und die Behauptung der EU im globalen Wettbewerb. Das kann auch soziale Einschnitte erfordern.

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Europas Soziale Dimension – Ziel oder schon Realität?[1]

Präsident Juncker hat in seiner Antrittsrede im Europäischen Parlament von einem sozialen Triple A gesprochen[2], das Europa erlangen muss. Verständlich vor dem Hintergrund der Krise und den Folgen, die diese in manchen Ländern ausgelöst hat. Schwerer verständlich, wenn man die soziale Lage in der EU insbesondere im globalen Kontext näher beleuchtet. Eine faktenorientierte Analyse ergibt, dass die EU in ihrem Wesen von Anfang an sozial und in der Angleichung der Lebensstandards der Europäer erfolgreich war. Patentrezepte gibt es nicht.

Der wirtschaftliche und soziale Hintergrund

Aus der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 entstand für manche Euro-Staaten ein Verschuldungsproblem, das auch die gemeinsame Währung, den Euro, gefährdete. Die deutsche Kanzlerin mahnte damals Reformen ein und führte dafür immer wieder folgende Zahlen an: Auf die EU-Staaten entfallen 7 Prozent der Weltbevölkerung, 23 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts (Eurostat) und ca. 50 Prozent der globalen Sozialausgaben. Diese Zahlen legten nahe, dass die EU-Staaten beim größten Budgetposten, den Sozialausgaben sparen mussten.[3] Die Zahlen zeigen aber auch, dass das europäische Sozialmodell bereits jetzt durch massive Umverteilung und hohe Sozialausgaben der EU-Staaten selbst geprägt ist.
Die oben genannten EU-Anteile sind in allen drei Bereichen rückläufig, was am unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum, vor allem aber an der demographischen Entwicklung liegt.[4].
Nach dem Globalvergleich ist das Hauptproblem der EU somit nicht der Mangel an sozialen Ressourcen, sondern eher die Überlastung der Staatshaushalte mit Sozialausgaben, verhaltene wirtschaftliche und trübe demographische Zukunftsperspektiven.[5]
Dank Haushaltssanierung und lockerer Geldpolitik ist die Schuldenkrise inzwischen weitgehend abgewendet. Der Krise folgten aber sieben magere Jahre, die die soziale Situation in den Krisenländern verschlechtert haben. Inzwischen sinkt die Arbeitslosigkeit und wächst die Wirtschaft zwar wieder überall. Doch die Stimmung hat sich gedreht: Die obigen Globalzahlen sind vergessen, die EU-Politik sieht wieder sozialen Nachholbedarf.

Ist die EU unsozial?

Zentrale Ziele der EU sind die Kohäsion, also der Zusammenhalt, und die Konvergenz, also die wirtschaftliche und finanzielle Annäherung der EU-Staaten. Grundlagen der EU sind die vier Grundfreiheiten und eine Umverteilung von reicheren zu ärmeren Ländern, etwa über den Regional- und Sozialfonds. Übersehen wird gern, dass diese Ziele und Grundlagen nicht rein wirtschaftlich, sondern auch sozial sind und wirken. Sie setzen nämlich dort an, wo die größte Ungleichheit zwischen den Europäern besteht: Bei der Ungleichheit zwischen den EU-Staaten.
Der GINI-Koeffizient ist die Maßzahl für die Ungleichverteilung vor allem von Einkommen. Er ist in den USA und innerhalb der EU ungefähr gleich hoch, nämlich 0,4. Während in den USA davon nur 0,05 auf den Unterschied zwischen den Bundesstaaten entfallen, entfallen in der EU 0,23 auf die Ungleichheit zwischen den EU-Staaten.[6] In den USA sind die Einkommensunterschiede zwischen den Bundesstaaten somit gering (etwa 1:1,5), innerhalb der Gesellschaft aber groß. In der EU sind die Gesellschaften der einzelnen EU-Staaten relativ egalitär, aber die Unterschiede zwischen den EU-Staaten groß. Zu Kaufkraftparitäten verdienen Holländer und Österreicher fast dreimal so viel wie Bulgaren, Luxemburger und Iren noch mehr.
Genau bei diesen regionalen Unterschieden setzen die Ziele und Grundlagen der EU an, während die Sozialpolitik, die auf den Zusammenhalt innerhalb der Länder abzielt, großteils den Mitgliedstaaten überlassen ist. Nun sind infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise Länder wie Griechenland und Portugal zurückgefallen. Italien, das 2000 noch über dem Einkommensschnitt der Eurozone lag, liegt inzwischen darunter. Diese Entwicklung verdeckt jedoch, dass die EU in der Angleichung von Lebensstandards insgesamt und im langjährigen Vergleich sehr erfolgreich war: Die neuen EU-Staaten haben durchwegs vor und nach der Krise aufgeholt, sich also dem EU-Schnitt angenähert. Das galt bis zur Krise auch für Spanien und Griechenland.
Das ist auch Folge der EU-Politik: Der Binnenmarkt schafft Größenvorteile und Wohlstandseffekte und macht die EU als Ganzes wettbewerbsfähig. Die Umverteilung über die diversen Fonds und Finanzierungsströme in der EU[7] stärkt die wettbewerbs- und strukturschwachen EU-Länder.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wirkt faktisch wie eine europäische Arbeitslosenversicherung: Innerhalb der EU migrieren jährlich Hunderttausende Menschen von Ländern mit geringerem Einkommensniveau und höherer Arbeitslosigkeit in Länder mit besseren Arbeitsmarkt- und Verdienstchancen wie Österreich und Deutschland.[8] Auch wenn Zuwanderung Wertschöpfung und wichtige Fachkräfte bringt, erhöht sie doch die Arbeitslosigkeit in den Zielländern bzw. senkt diese in den Herkunftsländern und verteilt somit Lasten um.[9] Zudem reduziert die Arbeitnehmerfreizügigkeit tendenziell auch die Einkommensunterschiede zwischen den EU-Ländern. Denn ein höheres Arbeitskräfteangebot dämpft die Einkommensentwicklung in Zielländern, während Arbeitskräftemangel den Preis der Arbeit, die Löhne erhöht.[10]
Die wirtschaftliche und damit auch soziale Entwicklung hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Interessant ist aber, dass der Rückfall in der Konvergenz nur Euroländer betraf. Nun könnte man den Rückfall den Austeritätsmaßnahmen zuschreiben, die die Krisenländer vornehmen mussten. Eine tiefere Ursache liegt aber wohl darin, dass seit 1999 auf unterschiedliche Volkswirtschaften und Mentalitäten ein einheitlicher Währungsstandard angewandt wird, der strikte Regeln und Disziplin voraussetzt, aber manche Länder überfordert.[11]

Denn auch in der Sozialpolitik bringen auf den ersten Blick soziale und angleichende Maßnahmen im Ergebnis oft unsoziale Ergebnisse, während marktwirtschaftliche Maßnahmen sozial wirken können.

Im Ergebnis könnte also ein Instrument, das wirtschaftliche und finanzielle Angleichung bringen sollte, nämlich die einheitliche Währung, eher das Gegenteil bewirkt haben.[12] Das soll keine monokausale Erklärung und schon gar kein Plädoyer gegen die Währungsunion sein, sondern eine Warnung: Denn auch in der Sozialpolitik bringen auf den ersten Blick soziale und angleichende Maßnahmen im Ergebnis oft unsoziale Ergebnisse, während marktwirtschaftliche Maßnahmen sozial wirken können.[13]

Die EU-Konzepte zur sozialen Dimension

Das Streben nach dem sozialen Triple A hat uns nicht nur die Europäische Säule sozialer Rechte[14] beschert, sondern auch ein Reflexionspapier zur sozialen Dimension[15]. Die Europäische Säule enthält eine Reihe von Rechten und Grundsätzen, mit deren Hilfe faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme unterstützt werden. Sie soll als Kompass für einen erneuerten Konvergenzprozess in Richtung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen in den teilnehmenden Mitgliedstaaten dienen und als gemeinsame Proklamation von Rat, Eur. Parlament und Eur. Kommission angenommen werden. Ihre Rechtsqualität ist unklar.
Die Eur. Kommission hat die Diskussion über die Zukunft Europas mit einem Weißbuch im März 2017 begonnen.[16] Es beschreibt den Ist-Zustand (langsame Erholung von der Krise, unterschiedliche Beschäftigungsquoten, unterschiedliche Sozialschutzsysteme) und zählt weiters Szenarien für eine EU im Jahr 2025 auf.
Das Reflexionspapier zur sozialen Dimension ist der sozialpolitische Beitrag der Kommission. Während das Weißbuch fünf Szenarien[17] skizziert, wie die EU 2025 aussehen könnte, beschränkt sich das Reflexionspapier auf drei Szenarien:

  • Begrenzung der „sozialen Dimension“ auf den freien Personenverkehr („weniger EU“)

Sozialpolitik sollte ausschließlich den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Nur die Vorschriften zur Förderung des freien Personenverkehrs (Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Entsenderichtlinie; Anerkennung von Abschlüssen) sollen beibehalten werden. EU-Vorschriften über Arbeitnehmerschutz, Arbeitszeit, Gleichstellung, Information und Konsultation der Arbeitnehmer und Elternurlaub würden abgeschafft.

  • Intensivere Zusammenarbeit der „Willigen“ im sozialen Bereich

Gerade die Eurozone sollte Vorkehrungen treffen, um für Krisen gerüstet zu sein. Gemeinsame Standards könnten sich auf die Arbeitsmärkte, die Rahmenbedingungen für Unternehmen und Verwaltung sowie bestimmte Aspekte der Steuerpolitik konzentrieren. Folge wäre stärkere Konvergenz im Bereich der Beschäftigung und Sozialpolitik.

  • Gemeinsame Vertiefung der sozialen Dimension mit allen 28 Mitgliedstaaten („mehr EU“)

Der Handlungsschwerpunkt im Sozialbereich soll weiterhin bei den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern liegen, aber die EU könnte etwa nicht nur Mindeststandards festlegen, sondern auch die Bürgerrechte in der gesamten Union vollständig harmonisieren. So könnten verbindliche Richtwerte für eine wirkungsvolle Beschäftigungspolitik sowie leistungsfähigere Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme entwickelt werden. Analog zur Jugendgarantie könnte eine mit EU-Mitteln finanzierte Kindergarantie ins Leben gerufen werden. EU-Mittel könnten von der Erreichung bestimmter Ziele oder der Durchführung von Reformen abhängig gemacht werden.
Damit sind die Optionen „weiter wie bisher“ und „weniger, aber effizienter“ vom sozialpolitischen Tisch. Gerade letztere in Verbindung mit „wer mehr will, tut mehr“ wäre aber die aus Sicht der Wirtschaft spannendste Option.

Ein differenzierter Zugang

Es gibt kein Patentrezept, letztlich ist zu prüfen, wo einheitliche Standards sinnvoll für alle sind, wo nicht und wenn ja, auf welchem Niveau sie liegen sollen. Einige Leitlinien sind aber wichtig:

  • Grundsätzlich sollte die EU nur Materien regeln, die einen europäischen Mehrwert schaffen, etwa den Binnenmarkt fördern, den fairen Wettbewerb oder ein Mindestniveau im Arbeitnehmerschutz.
  • Sozialstandards dürfen ärmere Länder nicht überfordern.
  • Auch reichere Länder dürfen nicht überfordert werden[18], etwa wenn es um die Gewährung von Sozialleistungen an EU-Bürger und ihre Angehörigen geht.
  • Geltende Regeln sind flächendeckend anzuwenden und durchzusetzen.

Der Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten stärkt wie gesagt nicht nur die EU, sondern wirkt auch sozial. Für die österreichische Wirtschaft ist er der größte Wachstumsmotor, da 70 Prozent der österreichischen Exporte in die EU gehen[19]. Der Binnenmarkt für Güter und Dienstleistungen ist aber noch unvollendet. Auch das Binnenmarktpotenzial der Energie-, Digital- und Kapitalmärkte ist noch nicht ausgeschöpft.[20] Die vier Grundfreiheiten müssen voll umgesetzt werden. Jede Einschränkung – mit Ausnahme der schon bestehenden – wäre nicht nur ein Rückschritt in der Integration, sondern wirtschaftlich und damit auch sozial kontraproduktiv.
Allerdings können Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit nur dann funktionieren, wenn sie von den Bürgern politisch akzeptiert werden, was auch das BREXIT-Votum gezeigt hat. Vor allem sind dabei die Lohnstandards vor Ort einzuhalten. Die Entsenderichtlinie sieht das vor, doch wird der Grundsatz in der Praxis oft missachtet. Das spüren Länder wie Österreich, die eine massive und stetig steigende Zahl von Entsendungen aus ärmeren EU-Staaten verzeichnen. Die ordnungsgemäße Umsetzung der Entsenderichtlinie erfordert eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten und die effektive Durchsetzung von Strafbescheiden. Die Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie schafft dazu die rechtlichen Voraussetzungen.
Die Rechtssetzung in der Sozialpolitik erfolgt in der Regel durch Richtlinien und Mindeststandards, die das unterschiedliche Sozialschutzniveau der EU-Staaten berücksichtigen. Damit erlauben sie den Mitgliedstaaten zwar, für Arbeitnehmer günstigere Standards zu setzen, verbieten aber gleichzeitig, dass bei der Umsetzung von Richtlinien bereits bestehende höhere Standards auf das Niveau der Richtlinie gesenkt werden. Diese Einbahnstraße wirkt einer Angleichung entgegen und trifft „Vorzugsschüler“ wie Österreich. Ist das Schutzniveau bereits hoch, warum sollte man nicht überzogene nationale Standards auf allgemeineuropäisches Niveau absenken dürfen?
Arbeitsrecht ist derzeit weitgehend national geregelt, weil die EU kaum gemeinsame Standards schafft. Hingegen gibt es einen umfangreichen EU-Rechtsbestand für den Arbeitnehmerschutz. Diese Differenzierung ist durchaus sinnvoll. Arbeitsrecht ist eine historische gewachsene Materie, die fest mit den Institutionen und Traditionen eines Landes verbunden ist. Hingegen geht es beim Arbeitnehmerschutz um meist objektivierte Standards für die Gesundheit von Arbeitnehmern. Einheitliche Mindeststandards sind im Hinblick auf dieses Rechtsgut gerechtfertigt und erleichtern Unternehmen im Übrigen das grenzüberschreitende Arbeiten. Eine Renationalisierung würde wohl rasch zu einer Kluft zwischen liberalen oder ärmeren Ländern und traditionellen Sozialstaaten wie Österreich führen, die sich auch im Wettbewerb auswirkt. Schon jetzt besteht diese Kluft oft in der praktischen Umsetzung von EU-Recht, die je nach Land und Tradition lax oder strikt erfolgt.
Ein Bereich, der mehr europäische Maßnahmen und Zusammenarbeit erfordert, ist Migration und Asyl: Konkret ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einem wirksamen Schutz der Außengrenzen, einer angemessenen Registrierung in den sogenannten Hotspots, einer schnellen Bearbeitung von Asylanträgen und – im Falle einer Ablehnung des Asylantrags – einer Rückführung in den Herkunftsstaat bzw. in einen Drittstaat, mit dem ein Rückübernahmeabkommen geschlossen wurde.

Instrumente und Herausforderungen

Rechtssetzung auf europäischer Ebene erfordert genaue Analysen und viel Zeit. Wichtige Instrumente sind hier die periodische Überprüfung und Evaluierung bestehender Rechtsakte, die Konsultation betroffener Kreise, die Folgenabschätzung vor Vorlage von neuen Rechtsvorschlägen und nicht zuletzt die Einbeziehung der europäischen Sozialpartner in den Gesetzgebungsprozess.

Sozialer Zusammenhalt und Schutzstandards sind ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und Staatshaushalte, das Funktionieren der Arbeitsmärkte und die Behauptung der EU im globalen Wettbewerb.

Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist etwa mit Wirtschafts- und Währungsunion sowie Schengen längst Realität. Die WWU erfordert eine Annäherung mancher Standards auch im Sozialbereich. Hier zeigt sich, dass sozialpolitische Maßnahmen keine Einbahnstraße sein dürfen. Sozialer Zusammenhalt und Schutzstandards sind ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und Staatshaushalte, das Funktionieren der Arbeitsmärkte und die Behauptung der EU im globalen Wettbewerb. All dies erfordert oft soziale Einschnitte, etwa Pensionsreformen oder die Lockerung des Kündigungsschutzes. Dabei stellen sich in fast allen EU-Ländern dieselben Herausforderungen:

  • mehr Menschen aller Altersgruppen im Arbeitsmarkt unterzubringen, insbesondere Arbeitslose rasch wiedereinzugliedern;
  • das faktische und gesetzliche Pensionsantrittsalter entsprechend der Lebenserwartung anzuheben[21],
  • eine nachhaltige demographische Entwicklung auch im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die Finanzierung der Sozialsysteme;
  • den richtigen Mittelweg zwischen flexiblen und sicheren Arbeitsverträgen zu finden,
  • die Kluft zwischen „Insidern“, also geschützten und gutverdienenden Arbeitnehmern, und „Outsidern“ zu schließen,
  • den Faktor Arbeit steuerlich zu entlasten,
  • Bildung und lebenslanges Lernen etwa im Hinblick auf die Digitalisierung zu verbessern.[22]

Diese Herausforderungen müssen jedoch nicht in allen Mitgliedstaaten auf dieselbe Weise gemeistert werden. Zwischen den Extremen einer rein nationalen oder einer europäisch einheitlichen Regelung gibt es Mittelwege, etwa die Festlegung gemeinsamer Ziele und deren periodischer Überprüfung anhand von Berichten und gemeinsam festgelegten Indikatoren, wie dies bereits im Rahmen des europäischen Semesters[23] erfolgt. Denselben Weg sieht auch die Europäische Säule sozialer Rechte vor.
In der Praxis werden die länderspezifischen Empfehlungen, mit denen Kommission und Rat auf die Fortschrittsberichte der Mitgliedstaaten reagieren, jedoch oft in bilateralen Verhandlungen verwässert, um die Liste der (unangenehmen) Reformaufgaben der Mitgliedstaaten zu reduzieren. Letztlich dienen das europäische Semester und die länderspezifischen Empfehlungen der Konvergenz innerhalb der EU und einer nachhaltigen wirtschaftlichen und damit sozialen Entwicklung.

Fazit

Die Europäische Union ist bereits sozial. Ihre zentralen Ziele, die Kohäsion und die Konvergenz der EU-Staaten sind in erster Linie wirtschaftlich inspiriert, wirken aber sozial im Sinne einer Angleichung der Lebensstandards in der EU. Dasselbe gilt für die vier Grundfreiheiten, insbesondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit, und die Umverteilung von reicheren zu ärmeren Ländern. Auch wenn die Krise 2008/09 für einzelne Länder Rückschläge brachte, haben im Langzeitvergleich ärmere Länder und ihre Bürger durchwegs aufgeholt, aber auch reichere Länder und ihre Bürger profitiert.
Auch ist das europäische Sozialmodell im Globalvergleich bereits durch massive Umverteilung, dichte Gesetzgebung und hohe Sozialausgaben geprägt. Zusätzlich hat das EU-Recht etwa im Arbeitnehmerschutz, in der Arbeitszeit und der Gleichbehandlung die soziale Lage der EU-Bürger verbessert. Die Digitalisierung wird zusätzlichen Regelungsbedarf auf europäischer Ebene auslösen, allerdings ist hier mit Augenmaß vorzugehen, um nicht vorschnell zu überregulieren.

Bekanntlich wird Negatives gern Brüssel zugeschrieben, Positives gern national „verkauft“. Es ist dieses „Kommunikationsdefizit“, das zu EU-Verdrossenheit führt, nicht mangelnde europäische Sozialgesetzgebung.

Doch fehlt das Bewusstsein bei Bürgern, Politikern und Medien, dass die EU und ihre Mitglieder im Vergleich mit den USA, Japan oder Russland bereits sehr sozial sind. Bekanntlich wird Negatives gern Brüssel zugeschrieben, Positives gern national „verkauft“. Es ist dieses „Kommunikationsdefizit“, das zu EU-Verdrossenheit führt, nicht mangelnde europäische Sozialgesetzgebung.

[1] Gemeint sind stets beide Geschlechter. Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die Nennung beider Formen verzichtet.
[2] http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2016/577996/EPRS_ATA(2016)577996_EN.pdf.
[3] Die Zahlen sind korrekt, auch wenn nicht die Sozialausgaben aller Länder der Welt vorliegen. Vgl. https://fullfact.org/europe/does-europe-account-half-worlds-welfare-spending/.
https://www.ft.com/content/8cc0f584-45fa-11e2-b7ba-00144feabdc0.
[4] Der Anteil der EU an den Geburten der Welt beträgt nur 3,6 Prozent (Nigeria allein hat mehr als 5 Prozent!). Während die Bevölkerung der Welt, vor allem in Afrika rasant wächst, würde sie in Europa ohne Zuwanderung schrumpfen. Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/8102200/3-10072017-AP-DE.pdf.
[5] Das kommt u.a. in einer aktuellen pessimistischen Pressemitteilung der Eur. Kommission vom 17. Juli 2017 zum Ausdruck. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-1988_de.htm.
[6] Branko Milanovic, Haben und Nichthaben, 2017, S 184f.
[7] Das EU-Budget beträgt 1,2% des BIP aller EU Mitgliedstaaten.
[8] Das betrifft vor allem die neuen EU-Staaten. Im Vergleich zu den USA ist die Arbeitsmobilität innerhalb der EU aufgrund sprachlicher und anderer Barrieren immer noch gering. Vgl. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Policy-Brief-Arbeitsmobilitaet-de_NW_04_2015_.pdf.
[9] Der Befund trifft insbesondere für Österreich zu. Die Arbeitslosigkeit von Ausländern ist hier wesentlich stärker gestiegen als jene unter Inländern. Zahlen dazu etwa unter: http://www.integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/Downloads/Publikationen/Fact_Sheet20_Migration_und_Arbeitslosigkeit.pdf.
[10] Das WIFO schreibt in einer Studie die schwache Lohnentwicklung vor allem der Tatsache zu, dass der Anteil der Ausländer am inländischen Arbeitsmarkt zunimmt und deren Einkommen schwächer steigen, auch weil viele Ausländer instabil beschäftigt sind. WIFO: Österreich 2025: Segmentierung des Arbeitsmarktes und schwache Lohnentwicklung in Österreich.
[11] In Italien sehen viele den Euro als Ursache für die schlechte Wirtschaftsentwicklung. Einige Ökonomen sehen sogar in einem Exit aus dem Euro eine Lösung.
http://derstandard.at/2000061366252/Zwischen-Austritt-und-Parallelwaehrung-Italiens-Frust-ueber-den-Euro-steigt
[12] Kritik und Verbesserungsmöglichkeiten siehe: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-emu_de.pdf.
[13] Als Beispiele seien hohe gesetzliche Mindestlöhne oder die Arbeitszeitverkürzung in Frankreich genannt, die die Arbeitslosigkeit dort erhöht haben. Hingegen haben nach einer Studie des deutsche ifo-Instituts die als „unsozial“ verschrienen Hartz-Reformen die Ungleichheit in Deutschland reduziert.
https://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/DocBase_Content/ZS/ZS-ifo_Schnelldienst/zs-sd-2016/zs-sd-2016-13/sd-2016-13-felbermayr-etal-einkommensungleichheit-2016-07-14.pdf.
[14] https://ec.europa.eu/commission/priorities/deeper-and-fairer-economic-and-monetary-union/european-pillar-social-rights_de#documents.
[15] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf.
[16] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf.
[17] 1) Weiter wie bisher; 2) Schwerpunkt Binnenmarkt; 3) wer mehr will, tut mehr; 4) weniger aber effizienter; 5) viel mehr gemeinsames Handeln.
[18] Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18.2.2016 Abschnitt D http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-1-2016-INIT/de/pdf.
[19] https://www.go-international.at/Oesterreichische-Exportwirtschaft-2016.pdf.
[20] Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden (Bericht der 5 Präsidenten).
[21] Das forderte die Eur. Kommission wiederholt, zuletzt in einer Pressemitteilung am 17. Juli 2017. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-1988_de.htm.
[22] s. FN 20.
[23] http://ec.europa.eu/europe2020/making-it-happen/index_de.htm.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autoren arbeiten, überein.
Schlagworte
soziale Dimension, soziales Europa, europäische Sozialpolitik, Zukunft Europas
Zitation
Schweng, C., Gleißner, R. (2017). Europas Soziale Dimension – Ziel oder schon Realität? Wien. ÖGfE Policy Brief, 19’2017
Hinweis
Zu diesem Policy Brief ist auch ein Gastkommentar in der Tageszeitung “Der Standard” erschienen

Mag. Christa Schweng

Mag. Christa Schweng ist EWSA-Mitglied und Referentin in der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit der Wirtschaftskammer Österreich.

Mag. Dr. Rolf Gleißner

Mag. Dr. Rolf Gleißner ist stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit der Wirtschaftskammer Österreich.