Zukunft Europas: Der Ball liegt bei den Mitgliedsstaaten (Gastkommentar Paul Schmidt, derstandard.at)

Letztes Jahr hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die EU noch nahe der Existenzkrise gesehen und die Unbeweglichkeit einiger EU-Hauptstädte beklagt. Seine Rede zur Lage der Union war smarter und strategisch überlegter formuliert. Juncker ist heute konzilianter gegenüber streitbaren Mitgliedern, sucht weniger die Konfrontation, sondern ihre Unterstützung für künftige Reformen.
Er spricht einzelne Probleme wie Flucht und Zuwanderung, die Entsendung von Arbeitskräften, das Thema Lebensmittelqualität, die Auslegung der Fiskalregeln oder die Vertiefung der Eurozone gezielt an, ohne aber seine Sorgenkinder beim Namen zu nennen. Er signalisiert, dass die Kommission ihre Probleme lösen möchte, und gleichzeitig wird Solidarität eingemahnt sowie die Pflicht, Urteile des Europäischen Gerichtshofs anzuerkennen. Insgesamt zeichnet der Kommissionspräsident ein positiveres Bild. Nicht zuletzt aufgrund der guten Wirtschaftsprognosen sieht er ein Zeitfenster, das es für notwendige Integrationsschritte zu nützen gilt.

Vorreiterrolle beim Klimaschutz
Dank der USA ist die EU in Handelsfragen gefragter denn je. Sie muss die Vorreiterrolle im Klimaschutz ausbauen und die Industrie stärken. Ein Verteidigungsfonds, eine Aufklärungseinheit zum Schutz vor Terrorismus und eine Sicherheitsagentur zur Cyberkriminalität sollen die EU krisenresistenter machen. Die EU-Hilfe für Afrika soll erhöht, Möglichkeiten für legale Asylwege geschaffen, aber auch Rückführungen leichter ermöglicht werden. Dem Prinzip “Gleiche Arbeit, gleicher Ort, gleicher Lohn” soll endlich zum Durchbruch verholfen werden – eine neue Aufsichtsbehörde für den Arbeitsmarkt könnte hier helfen.

Zukunft der EU
Die Kommission hat schon in den vergangenen Monaten fünf Optionen zur Zukunft der EU vorgelegt. Juncker skizziert nun eine sechste: eine vage Mischung der Szenarien “Weniger, aber effizienter” und “Viel mehr gemeinsames Handeln”. Anstatt die Idee eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten zu forcieren, möchte er die Union als Ganze handlungsfähiger machen. Mehrheitsentscheidungen konkret in den Bereichen Außenpolitik und Binnenmarkt. Ein rascher Schengenbeitritt Rumäniens, Bulgariens – in späterer Folge Kroatiens. Eine zeitnahe Erweiterung der Eurozone, die letztlich alle Mitglieder umfassen soll. Eine Erweiterungsperspektive für den Westbalkan, keine unter einer Erdoğan-Türkei. Ein eigener Finanzminister und eine gesonderte Budgetlinie für die Eurozone, aber kein eigenes Europarlament. Und eine Fusion von Rats- und Kommissionspräsident, der bei den EU-Wahlen bestimmt werden soll.

Realitätstest folgt erst
Die Idee verstärkter Subsidiarität und der kürzlich von Emmanuel Macron vorgebrachte Vorschlag von Bürgerdebatten werden wiederholt, doch bleibt wieder vage, wie sich diese konkret auf die EU-Politik auswirken könnten. Ein Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Interessen ist ihm gelungen, aber ein Befreiungsschlag war die Rede nicht. Junckers Forderungen müssen den Realitätstest erst bestehen, und die Reformdebatte steht unter immensem Zeitdruck. Rechtzeitig bis zu den EU-Wahlen im Sommer 2019 braucht die europäische Öffentlichkeit Klarheit über den weiteren Integrationsfahrplan. Jetzt sind die Mitgliedsstaaten am Zug.