Pflicht, aber keine Kür (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Das Regierungsprogramm lässt einige europapolitische Fragen noch unbeantwortet.
Das Programm der neuen österreichischen Bundesregierung ist ein pragmatisches Bekenntnis zu Europa, in Sachen Neuausrichtung der EU-Integration bleibt es jedoch vage. Es ist ein Spagat zwischen den durchaus konträren europapolitischen Ansichten beider Partner. Gewählt wurde der Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners, im Versuch, strittige Themen – so sie nicht ausgeräumt werden konnten – beiseitezulassen. Jedenfalls wurde eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft explizit ausgeschlossen, und die Ratifizierung des EU-Wirtschafts- und Handelsabkommens mit Kanada dürfte beschlossene Sache sein. Die Türkei soll nicht EU-Mitglied werden können, und die EU-Erweiterung um die Westbalkan-Länder wird forciert. Auch in den Bereichen Subsidiarität, Migration, Überbürokratisierung und Sicherheit scheinen sich die Regierungspartner zumindest in ihren Absichten durchaus einig zu sein.

Mit Ausnahme der Präferenz für Option 4 der EU-Reformszenarien – die EU soll weniger machen, dafür effizienter werden – findet man in der Vereinbarung noch wenig Konkretes zur europäischen Reformdebatte. Bereiche wie die Weiterentwicklung der Währungsunion, der Follow-up zur Pariser Klimaschutzstrategie, das EU-Budget nach dem Brexit, der Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung, die soziale Dimension der EU oder auch die Positionierung gegenüber Russland werden nicht oder nur am Rande erwähnt und könnten noch zu einem EU-Stresstest für die neue Regierung werden. Ein solcher steht ihr womöglich auch auf EU-Ebene bevor, wenn sie sich bei der Flüchtlingsaufteilung eher an den Visegrad-Ländern als an Berlin und Paris orientiert. Die FPÖ hat sich jedenfalls bisher mit ihren EU-politischen Vorstellungen klar zurückgehalten. Festgeschrieben ist aber zumindest die Intention, zur weiteren Positionsfindung einen EU-Konvent in Österreich einzusetzen. Ein Vorschlag, der – so man es ernst meint – rasch umzusetzen wäre, will man sich auch tatsächlich auf EU-Ebene wirksam einbringen.
Sinnvoll ist es auf alle Fälle, die EU-Agenden im Kanzleramt zu bündeln. Die neue Regierungskonstellation erleichtert diese Strukturbereinigung, die unter vergangenen Koalitionen schwer möglich beziehungsweise weniger drängend war. Sie spiegelt lediglich die EU-politische Realität wider. Spätestens seit 2009 – nach dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags – geben die Regierungschefs den Ton an. Die Außenminister bereiten die EU-Gipfel zwar vor, nehmen aber nicht mehr an den Treffen der Staats- und Regierungschefs teil. Ein Europa-Minister, der die Koordinierungsagenden übernimmt und Österreich im Rat für Allgemeine Angelegenheiten vertritt, könnte hier helfen.
Ob diese Kompetenzbereinigung allerdings die Widersprüche in den Positionen mittelfristig klären wird, bleibt abzuwarten. Ebenso, wie die FPÖ den Spagat zwischen einer durchaus “proeuropäischen” Regierungspositionierung und der Mitgliedschaft in einer EU-Parlamentsfraktion, die explizit EU-feindliche Kräfte beherbergt, bewältigen wird. Das Regierungsprogramm lässt einige Fragen offen. Aber auch hier gilt es, die neue Regierung an ihren Taten zu messen.