Europa ist schon lange kein Nebenschauplatz mehr (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Heute ist alles anders als vor fünf Jahren. Großbritannien nimmt an den nächsten Wahlen zum EU-Parlament nicht mehr teil. Eine rechtspopulistische Fraktion im EU-Parlament gewinnt an Gewicht, während Sozialdemokraten in Italien, Frankreich und Deutschland massiv unter Druck geraten – mit all den Implikationen für die zukünftige Funktionsweise der EU. 2014 wählten Konservative und Sozialisten den EU-weiten Spitzenkandidaten der stimmenstärksten Fraktion zum EU-Kommissionspräsidenten. 2019 werden die beiden womöglich keine gemeinsame Mehrheit mehr haben – andere Koalitionskonstellationen könnten den Ausschlag geben. Fragen rund um Asyl und Migration dominieren – trotz stark gesunkener Ankünfte – den fast monothematischen Europa-Diskurs in etlichen EU-Ländern, und die Polarisierung zwischen liberalen und illiberalen Kräften sowie zwischen Integrationisten und Nationalisten nimmt weiter zu.

Auch innenpolitisch ist die Rollenverteilung eine andere. Die klare Einteilung – pro-europäische Bundesregierung versus größte Oppositionspartei mit Anti-EU-Kurs – ist Schnee von gestern. Durch die ÖVP/FPÖ-Koalition ist nun eine betont EU-kritische Stimme Teil der Bundesregierung, auch wenn die EU-Kompetenz im Bundeskanzleramt unter ÖVP-Ägide gebündelt ist. Der Fokus auf Außengrenzschutz und Sicherheit, die Aussagen rund um den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen, der politische Kampf gegen illegale Migration und die geplante Indexierung der Familienbeihilfe für EU-Bürger, deren Kinder nicht in Österreich leben, verbinden zwar beide Koalitionspartner. Je näher aber die EU-Wahl rückt, desto pointierter und differenzierter werden die jeweiligen EU-Positionen.

Auch als Regierungspartei versucht die FPÖ, ihre Zielgruppen mit einem eigenständigen EU-kritischen Diskurs zu aktivieren. Provozierende Wortmeldungen gegenüber dem EU-Kommissionspräsidenten, Forderungen nach Aufrechterhaltung der unilateralen Grenzschließung, unterschiedliche Standpunkte zum Vertragsverletzungsverfahren gegen die ungarische Regierung oder Ideen einer Asylschnellprüfung auf Schiffen sind nur einige Beispiele des koalitionären Stresstests. Dazu kommt das medial interessante Match Othmar Karas versus Harald Vilimsky in Brüssel, bei dem gänzlich unterschiedliche Weltanschauungen aufeinanderprallen.
Generell ist mit dem EU-Ratsvorsitz das europäische Geschehen stärker in den Mittelpunkt der heimischen Aufmerksamkeit gerückt – eine Chance, die traditionell von innenpolitischen Erwägungen dominierte EU-Debatte in Österreich auf eine breitere Basis zu stellen. Schon jetzt gilt es für alle heimischen Parteien, mit der Nominierung engagierter Kandidaten auch klarzumachen, dass die EU-Wahl eben kein Wahlgang zweiter Klasse ist, sondern eine tatsächliche Richtungsentscheidung. Darüber hinaus ist es für die gesamte Opposition die erste bundesweite Wahlauseinandersetzung seit der Nationalratswahl vergangenen Herbst. Und für die Regierung wird sich zeigen, inwieweit sie vom EU-Ratsvorsitz profitieren konnte.

Die Chancen stehen jedenfalls gut, die Wahlbeteiligung zu steigern. Europa hätte es sich verdient.