Feilschen um die Topjobs in der EU (Gastkommentar Paul Schmidt, Die Presse)

Im Gegensatz zur Premiere des Systems der Spitzenkandidaten 2014 stellen Konservative und Sozialdemokraten heute keine Mehrheit der Abgeordneten zum Europäischen Parlament. Sie können daher weder über die Besetzung der wichtigsten EU-Jobs noch über inhaltliche Weichenstellungen allein bestimmen – auch nicht auf Ebene der EU-Staats- und Regierungschefs. Die daraus folgende Notwendigkeit, breitere Koalitionen zu schmieden und nachhaltige Kompromisse zu schließen, scheint sich jedoch bis dato noch nicht zu allen Beteiligten (jeglicher politischer Couleur) durchgesprochen zu haben.
Aber auch das EU-Parlament muss seiner Verantwortung gerecht werden und als Erfinder des Spitzenkandidatensystems mehrheitsfähige Lösungen anbieten. Ein Wiederaufleben klassischer Hinterzimmerpolitik bei EU-Personalentscheidungen – und nichts anderes wäre ein Abgehen von den Spitzenkandidaten – wäre eine demokratiepolitische Beerdigung erster Klasse und würde dem aktuell positiven EU-Bild in der Bevölkerung einen ordentlichen Dämpfer versetzen.
Um den EU-Kommissionspräsidenten zu ernennen, braucht es eine doppelte Mehrheit in den EU-Institutionen. Die Staats- und Regierungschefs nominieren ihren Kandidaten unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlen mit qualifizierter Mehrheit, also mit mindestens 55% der Mitgliedstaaten, die 65% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Eine Stimmenthaltung gilt hier als Gegenstimme. Im EU-Parlament muss der Kandidat eine absolute Mehrheit, derzeit mindestens 376 der insgesamt 751 Abgeordneten, hinter sich vereinen. Wird er oder sie abgelehnt, kann der Europäische Rat binnen eines Monats eine weitere Kandidatur aus dem Hut zaubern. Er wird aber erst dann einen Kandidaten ins Rennen schicken, wenn sich dieser der mehrheitlichen Unterstützung der Parlamentarier sicher sein kann. Eine rechtliche Verpflichtung, den EU-Kommissionspräsidenten anhand des Spitzenkandidatensystems zu bestimmen, gibt es nicht. Dennoch: Das EU-Parlament hat hier das letzte Wort und wäre gut beraten, darauf zu bestehen – schließlich waren die Spitzenkandidaten maßgeblicher Teil der Wahlkampagne und sollten die Bürger zusätzlich zur Stimmabgabe motivieren.

Alarmismus ist fehl am Platz
Die stärkere Zersplitterung des EU-Parlaments erleichtert die Mehrheitsfindung nicht. Alarmismus ist trotzdem fehl am Platz. Das Feilschen um die Besetzung europäischer Topjobs bis zur letzten Minute ist nichts Neues. Man sollte den Akteuren dabei auch die notwendige Entscheidungszeit zugestehen. Denn auf nationaler Ebene werden Regierungen in der Regel auch nicht in vier bis sechs Wochen aus dem Boden gestampft. „Qualität vor Geschwindigkeit“ wäre mehr als angebracht, wenn es darum geht, die personelle und inhaltliche Neuausrichtung der EU für die nächsten fünf Jahre festzulegen.
Der Europäische Rat und das Europäische Parlament sind in der Entscheidungsfindung aneinander gebunden, und das ist gut so. Nur im Konsens und mit Kompromissbereitschaft können beide Institutionen erfolgreich miteinander arbeiten. Letztlich sind die gestiegene Wahlbeteiligung und das erhöhte Interesse an der EU ein Signal, dass die Zeit der Entscheidungen hinter verschlossenen Türen endlich der Vergangenheit angehören sollte. Das Spitzenkandidatensystem ist lang nicht perfekt, aber es ist ein demokratiepolitischer Fortschritt für die EU, der auf Dauer nicht aufzuhalten ist.