Europäerinnen und Europäer vor den Vorhang! (Gastkommentar, Die Presse)

Nicht selten tendieren jene, die sich selbst gerne einleitend als „glühende Europäer“ präsentieren, dazu, gleich anschließend in pauschale Kritik zu verfallen. Martin Engelberg macht es in seinem Kommentar („Die Presse“, 20. April) nicht viel anders, indem er der EU nun auch „Versagen“ in der Coronakrise unterstellt. Gemeint sind eigentlich jene Mitgliedstaaten, die sich abschotten wollten und Lieferungen medizinischer Hilfsgüter blockiert haben. Beim Namen genannt werden sie allerdings nicht. Vielmehr wirft Engelberg den EU-Institutionen „Tatenlosigkeit bei der Abstimmung der Maßnahmen und eine mangelhafte Allokation der Hilfsmaßnahmen“ vor. Differenzierte Kritik fehlt.

Unerwähnt bleibt etwa, dass Gesundheitspolitik primär Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist, die den Wunsch, sich in diesem Bereich hineinreden zu lassen, bisher anscheinend gut versteckt hielten. Der EU-Kommission wurden im Gesundheitswesen bewusst lediglich unterstützende und ergänzende Zuständigkeiten übertragen. Angebote, eben diese auszuüben, wurden in den Regierungsvierteln nicht sonderlich goutiert. Die EU ist aber schlicht und ergreifend nur so stark, wie ihre Mitglieder es auch zulassen, und ist daher aktuell gesundheitspolitisch vor allem eine Union nationalstaatlicher Einzelkämpfer.

Differenzierte Kritik fehlt

In diesem Kontext arbeiten die EU-Institutionen daran, zumindest den freien Warenverkehr so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, die ausreichende Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung und Arzneimitteln EU-weit zu gewährleisten und wirtschaftliche Hilfe zu ermöglichen bzw. zu koordinieren. Erwähnung findet das nicht. Seine Kritik nutzt Engelberg lieber, um die von ihm favorisierte „EU der Subsidiarität“ weiter zu forcieren. Die Antwort auf die Frage, wie wir denn in Zukunft effektiver mit grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen umgehen könnten, bleibt er schuldig.
Sollten nicht eher die EU-Institutionen ausreichend Aktionsradius haben, um sicherzustellen, dass Notmaßnahmen europäisch ineinandergreifen, sich nicht konterkarieren? Etwas, worüber sich ja auch Engelberg beschwert. Und sollte nicht gerade jetzt unser Land Multilateralismus fördern, der ja im österreichischen Koalitionsprogramm ganz oben auf der Agenda steht, statt das Recht des Stärkeren in Krisenzeiten gewähren zu lassen? Sollte nicht auch Österreich verstärkt auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in der EU drängen, die aktuell besonders unter Druck gerät? Gemeint sind Ungarn und Polen. Namentlich werden sie nicht gern erwähnt.
Welche konkreten Pläne gibt es hierzulande, den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu unterstützen, abgesehen vom Ansinnen, das kommende EU-Budget bevorzugt moderat auszugestalten? Wo bleibt die spontane Solidaritätsbekundung des Autors für jene Mitgliedstaaten, die auch keine Schuld an der Coronakrise tragen, aber von dieser unverhältnismäßig stärker betroffen sind? Wo sind denn jene politischen Köpfe, die über die nationalen Grenzen hinausdenken, Zusammenhänge vor den Vorhang holen und sich dafür einsetzen, die Europäische Integration gerade auch in Krisenzeiten weiterzuentwickeln? Und warum redet Engelberg ohne Not eine Krise des Euro herbei? Wenn er diese Sorge schon haben sollte, dann wären innovative Lösungsansätze doch deutlich sinnvoller, als Italien, Spanien und Frankreich jetzt auszurichten.
Es ist halt stets leichter, andere zu kritisieren, als es selbst besser zu machen. Hätten wir die EU nicht, man müsste sich wohl einen neuen Sündenbock suchen.