Europa gemeinsam besser machen (Gastkommentar, Wiener Zeitung)

Wohin entwickelt sich die EU inmitten der Corona-Pandemie? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat dazu in ihrer ersten Rede zur Lage der Union vor dem EU-Parlament klare, ambitionierte Botschaften präsentiert, hohe Erwartungen geweckt, aber eben auch einiges eingefordert. Priorität haben die Bewältigung der Corona-Krise, soziale Sicherheit, neue Klimaschutzziele und ein digitales, europäisches Jahrzehnt. Nur wenn diese Herausforderungen gemeistert werden, kann Europa auf der Weltbühne souveräner auftreten, an Tempo zulegen und seine Werte offensiv vertreten. Ein Spagat, der erst einmal gelingen muss. Aber eben nicht alleine, sondern nur gemeinsam.

Von der Leyen ließ keinen Zweifel daran, welche drastischen Auswirkungen die Corona-Pandemie mit sich bringt, gleichzeitig machte sie deutlich, dass sie diese vor allem aber auch als Chance für mehr Zusammenhalt und eine wirtschaftliche Neuaufstellung der Union sieht. Aufgrund der akuten Krise hat die EU in diesem Ausmaß bisher nie dagewesene Finanzmittel zur Verfügung gestellt bekommen. Diese müssten nun verwendet werden, um in Zukunftsbereiche zu investieren und selbst weltweite Standards vorzugeben: Bei der grünen Umgestaltung der europäischen Wirtschaft – EU-weit sollen CO2-Emissionen nun schon bis 2030 um ambitionierte 55 Prozent reduziert werden. Bei der Digitalisierung – Europa soll den Schutz der Daten seiner Bürger selbst in die Hand nehmen, den Ausbau digitaler Netze forcieren und besonders neuen Unternehmen und dem ländlichen Raum bessere Wettbewerbsbedingungen schaffen. Um auf künftige Gesundheitskrisen vorbereitet zu sein, sollen die strategischen Lagerkapazitäten aufgestockt und eine neue Agentur für biomedizinische Spitzenforschung etabliert werden. Einem Impfnationalismus erteilte sie eine deutliche Absage, allen soll ein Impfstoff gleichermaßen zur Verfügung stehen.

Von der Leyen stellte die EU als Förderin des multilateralen Handelns in den Mittelpunkt – als Gegenpol zur gegenwärtigen Position in Washington, aber auch mit einem Seitenhieb auf Großbritannien, indem sie ein Zitat von Margaret Thatcher zurück auf die Reise nach London schickte, mit der Message, dass internationales Recht einzuhalten sei. Gleichzeitig fand sie deutliche Worte zur Situation in Weißrussland, Russland und der Türkei. Bei Rechtsstaatlichkeit, universellen Werten und Menschenrechten dürfe es keine Abstriche geben. Rassismus und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung hätten in Europa keinen Platz. Die Migrationsherausforderung soll durch EU-weite Solidarität endlich bewältigt werden, wobei sie in diesem Punkt zwar die Mitgliedstaaten aufforderte, zu Kompromissen bereit zu sein, konkrete Antworten jedoch noch nicht präsentierte.

Die Rede von der Leyens war eine emotionale und selbstbewusste Darstellung ihrer Prioritäten für Europa. Die EU-Kommissionspräsidentin wird aber nicht an Worten, sondern an den Ergebnissen ihrer Politik gemessen werden. Entscheidend wird letztlich sein, inwieweit die EU-Hauptstädte ihre Schwerpunktsetzung teilen und unterstützen. Schafft sie es, die EU-Mitgliedstaaten von ihren Integrationsvorstellungen zu überzeugen, wäre eine Menge gelungen. Es wartet noch viel Arbeit.