Vor einem Jahr diagnostizierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner ersten Rede zur Lage der EU: “Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Union. Es fehlt an Union in dieser Union.” An diesem skeptischen Befund hat sich nach zwölf Monaten wenig geändert: Juncker sieht die EU in einer existenziellen Krise und “derzeit nicht in Topform”.In seiner Bestandsaufnahme mangelte es Juncker nicht an Themen.Er sprach sich für rasche Brexit-Verhandlungen und gegen einen Binnenmarkt à la carte aus. Er verwies auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit sowie auf das niedrigere Defizitniveau der Mitgliedstaaten und budgetäre Spielräume aufgrund der Niedrigzins- und Reformpolitik.
Er hob die Stärken des EU-Freihandelsabkommens mit Kanada hervor und empörte sich ob der zögerlichen Ratifizierung des Pariser Klimaschutzabkommens. Gleichzeitig geißelte er soziale Ungerechtigkeit, Sozialdumping und hohe Jugendarbeitslosigkeit in der EU, kritisierte so manche nationale Kurzsichtigkeit im Umgang mit der Flüchtlingsthematik und sprach vom weit verbreiteten Unwillen zur Veränderung in europäischen Hauptstädten.
Bei allem Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EU: Wie will Juncker nun gegensteuern? Zu den wichtigsten Vorschlägen zählen insbesondere die Verdoppelung der Laufzeit und Finanzierungskapazität des Europäischen Investitionsfonds, eine verbesserte digitale Interkonnektivität, eine beschleunigte Kapitalmarktunion, eine Investitionsoffensive für Afrika und die EU-Nachbarschaft, strengere Kontrollen an den EU-Außengrenzen, eine stärkere Koordination der Verteidigungspolitik und mehr internationales Engagement – etwa durch eine europäische Strategie für Syrien.
Die von ihm vorgestellten Maßnahmen sind alle sinnvoll. Aber werden sie ausreichen, um den EU-Dampfer wieder auf Kurs zu bringen?
Die nächsten zwölf Monate sind entscheidend, um die EU-Mitgliedstaaten wieder zusammenzuführen. Juncker appellierte bewusst an die Solidarität der Länder und schlug den EU-Regierungschefs vor, doch ebenfalls selbst in ihre Parlamente zu gehen und ihre Maßnahmen für ein besseres Europa zu diskutieren.
Juncker zeichnete in seiner Rede ein umfassendes Gesamtbild, aber für eine tiefergehende Analyse jener drängenden Probleme, die den Menschen ganz besonders unter den Nägeln brennen, blieb dadurch notgedrungen zu wenig Zeit: Was kann konkret getan werden, um die grundlegenden Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten in Asyl- und Migrationsfragen zu überwinden? Wie kann denn dieses Europa tatsächlich sozialer – und Wachstum und Beschäftigung geschaffen – werden? Wie kann es schließlich gelingen, dass die EU in der öffentlichen Wahrnehmung mehr als Antwort auf die Globalisierung und weniger als deren Motor wahrgenommen wird?
Juncker sprach sich gegen das Konzept der Vereinigten Staaten von Europa und für europäische Vielfalt aus. Aber in welche Richtung soll sich die EU denn generell entwickeln? Wohin geht die Reise? Hier wären konkrete Antworten, mehr Emotionalität, Empathie und Vision durchaus willkommen gewesen.
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