Eine jüngere Demokratie? Zur Repräsentation und Partizipation Jugendlicher in der EU

Handlungsempfehlungen

  1. Stärkung der Repräsentation junger Menschen im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission
  2. Förderung von Bottom-Up-Initiativen junger Menschen
  3. Ausbau der Europa-Bildung und Europa-Erfahrungen von Nicht-Akademiker:innen

Zusammenfassung

Alle fünf Jahre findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt und die Öffentlichkeit diskutiert mehr oder weniger intensiv und sachlich über die wichtigsten Zukunftsthemen. Häufig hört man im Vorfeld der Wahl Pläne für eine bessere Einbeziehung der Jugend in die Europapolitik. Nicht immer werden diese Pläne in den folgenden fünf Jahren der Legislaturperiode weiterverfolgt. Denn trotz aller Initiativen, die die Europäische Union (EU) für junge Menschen setzt, bleiben gewisse Defizite hartnäckig erhalten. Ein Blick auf die Repräsentation und die Partizipation der Jungen zeigt die Probleme deutlich auf. Zwar sind auch die Nationalstaaten von diesen Defiziten betroffen, aber auf EU-Ebene werden sie durch eine geringere Wahlbeteiligung und weniger Öffentlichkeit verschärft. In diesem Policy Brief werden nach der Analyse der letzten Jahre einige Vorschläge für eine jüngere Demokratie auf EU-Ebene diskutiert.

****************************

Eine jüngere Demokratie? Zur Repräsentation und Partizipation Jugendlicher in der EU

Einleitung

Politiker:innen aller Couleurs reden gerne über „die Jugend”. Sie sei unsere Zukunft, man müsse auf sie hören und die Politik in ihrem Sinne zukunftsfähig gestalten. Im Herbst 2021 stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union die Jugendlichen ins Zentrum und verkündete für 2022 gar ein „Jahr der europäischen Jugend“. Viel Richtiges und Wichtiges wurde gesagt, etwa, dass junge Menschen von COVID-19-Lockdowns besonders betroffen waren, dass die Auswirkungen des Klimawandels und der Kriege in und um Europa ihre Zukunft besonders gefährden, dass die Chancen Europas für die Jugend genutzt werden müssten. Aber trotz dieser Bekenntnisse, trotz einer europäischen Jugendstrategie und einer eigens ernannten Jugendkoordinatorin blieben die konkreten Initiativen hinter den Möglichkeiten zurück. Vor allem in Hinblick auf Repräsentation und Partizipation junger Menschen in Europa gibt es nach wie vor große Defizite. Im vorliegenden Beitrag werden diese Defizite beleuchtet und mögliche Verbesserungen vorgeschlagen.

Repräsentation junger Menschen in der EU

Es ist bekannt und viel beforscht, dass die Europäische Union (EU) trotz großer Fortschritte immer noch an gewissen Demokratiedefiziten leidet (Follesdal/Hix 2006; Liargovas/Papageorgiou 2024; Volskij 2023). Ohne auf all die Facetten dieser Thematik eingehen zu können, werfen wir hierzu einen spezifischen Blick auf die Jugend. Demokratische Qualität bemisst sich an verschiedenen Kriterien (vgl. Bühlmann et al. 2012). Repräsentation und Partizipation relevanter Gesellschaftsgruppen spielen dabei eine besonders wichtige Rolle. In der Frage der Repräsentation unterscheidet die Politikwissenschaft nach Hannah Pitkin die deskriptive von der substanziellen (Pitkin 2023). Deskriptive Repräsentation bedeutet, dass eine Gruppe durch Personen repräsentiert wird, die ihr angehören. Substanzielle Repräsentation meint, dass die Interessen einer Gruppe vertreten werden, was auch durch Personen erfolgen kann, die ihr nicht angehören. Es herrscht weitgehende Übereinkunft darüber, dass für eine ausreichende Repräsentation beides erfüllt sein muss, wobei sich die substanzielle Repräsentation weniger eindeutig analysieren lässt als die deskriptive, da sich ein homogenes Gruppeninteresse nicht immer eindeutig definieren lässt. Auch für die europäische Jugend gilt: Sie ist divers und lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Als Themen, die aber von übergreifender Bedeutung für junge Menschen sind, können neben den großen Zukunftsfragen (Klimapolitik, Sicherheit, Digitalisierung) insbesondere Bildungs- und Ausbildungsfragen oder der Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit erachtet werden.

Eine Analyse der EU in Hinblick auf die deskriptive Repräsentation junger Menschen zeigt grobe Defizite auf. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten im Europäischen Parlament nach den Wahlen von 2019 und am Beginn der darauffolgenden Legislaturperiode lag bei 50 Jahren bei einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von knapp über 40 Jahren. Dieses Repräsentationsdefizit ist zwar kein spezifisches Problem des Europäischen Parlaments, aber in Kombination mit der im Vergleich zu nationalen Parlamenten geringen politischen Partizipation und Bekanntheit von Abgeordneten doch von besonderer Relevanz (Inter-Parliamentary Union 2023).

Eine Analyse der EU in Hinblick auf die deskriptive Repräsentation junger Menschen zeigt grobe Defizite auf.

Abbildung 1: Alter von Abgeordneten des Europaparlaments pro Mitgliedstaat

Quelle: European Parliament 2019

Eine Betrachtung nach Altersgruppen zeigt gravierende Probleme. Nur unter den dänischen, französischen und spanischen Abgeordneten gab es Mitglieder des Europäischen Parlaments unter 25 Jahren. Unter den österreichischen Abgeordneten war die jüngste Person 27 Jahre alt und niemand unter 25. Folgt man der gängigen Definition von Jugend als Altersgruppe zwischen 15 und 24, so war diese deskriptiv von österreichischen Abgeordneten gar nicht und auf gesamteuropäischer Ebene verschwindend repräsentiert, nämlich nur in zwei von 27 Staaten. Der Anteil der Jugendlichen zwischen 15 und 24 lag 2023 EU-weit bei 10,6 % (Website Eurostat 2023). Bezieht man Kinder mit ein, so sind EU-weit geschätzt zwischen 20 und 30 % der Bevölkerung (also jene zwischen 0 und 25 Jahren) deskriptiv unterrepräsentiert. Dieses Repräsentationsdefizit zeigt sich übrigens ähnlich am anderen Ende der Alterspyramide, denn nur in vier der 27 EU-Staaten gab es 2019 Abgeordnete über 75 Jahre. Das älteste österreichische Mitglied des Europäischen Parlaments war nach den Wahlen 2019 erst 61 Jahre alt. In anderen Staaten wie in Italien oder Dänemark gab es auch deutlich ältere Abgeordnete um oder sogar über 80 Jahre, aber insgesamt betrachtet waren diese Ausnahmen.

Unter den österreichischen Abgeordneten war die jüngste Person 27 Jahre alt und niemand unter 25.

Wir können also festhalten, dass das Europäische Parlament sowohl bei den jungen Menschen unter 25 als auch bei der Gruppe der Ältesten zuletzt deutliche Defizite in der deskriptiven Repräsentation aufwies. Die Altersgruppe zwischen 35 und 65 Jahren war deutlich überrepräsentiert. Auch wenn nicht von einer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung korrekten Repräsentation jüngerer und ältester Bevölkerungsgruppen ausgegangen werden kann, so wäre eine Annäherung demokratiepolitisch dennoch erstrebenswert und möglich. Die Inter-Parliamentary Union etwa weist darauf hin, dass sich in nationalen Parlamenten in einigen außereuropäischen Staaten die Einführung von Quoten bewährt habe (Inter-Parliamentary Union 2023). Es ist aber auch ohne solche Quoten möglich, den Anteil anzuheben, wenn mehr öffentliche Aufmerksamkeit in der medialen Debatte auf diese Thematik gerichtet wird.

Wir können also festhalten, dass das Europäische Parlament sowohl bei den jungen Menschen unter 25 als auch bei der Gruppe der Ältesten zuletzt deutliche Defizite in der deskriptiven Repräsentation aufwies.

In Hinblick auf die substanzielle Repräsentation ist eine Analyse schwieriger. Instanzen wie die Senior:innen-Vertretungen der politischen Parteien in Österreich, an deren Spitze oft altgediente und erfahrene Politiker:innen stehen, lassen darauf schließen, dass die Interessen älterer Menschen in Österreich und wohl auch vielen anderen EU-Ländern gut abgebildet und berücksichtigt werden. Auch ein Blick auf die Pensionspolitik lässt diese Schlussfolgerung zu. In Jugendfragen ist in der substanziellen Repräsentation trotz gegenteiliger öffentlicher Beteuerungen von Politiker:innen und Parteien von Defiziten auszugehen. Manche sprechen aufgrund des demographischen Wandels und einer Alterung der Gesellschaft polemisch von der „Herrschaft der Alten“ oder einer „Rentner-Demokratie“, in der die Interessen der Pensionist:innen etwa in der Sozialpolitik über jene der jüngeren Generationen gestellt würden (vgl. Streeck 2007; Schmidt 2022). Auch dass es zu einer Abstimmung über den Brexit im Vereinigten Königreich kam oder in Klimaschutzfragen nur schleppende Fortschritte und so mancher Rückschritt gemacht werden, wird häufig dieser Schieflage zugeschrieben (Curtice 2016; Koos/Naumann 2019).

Studien weisen wie erwähnt auf den engen Zusammenhang zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation hin und zeigen, dass Interessen gewisser Gruppen tatsächlich eher und besser von den Angehörigen dieser Gruppen selbst vertreten werden (Rentrop 2024; Angelucci et al. 2024; Stockemer/Sundstrum 2022).

Weit deutlicher noch als im Europäischen Parlament zeigt sich das Defizit deskriptiver Repräsentation junger Menschen in der Europäischen Kommission. Das Durchschnittsalter der 27 Kommissionsmitglieder betrug zu Beginn ihrer Einsetzung 2019 ca. 55 Jahre, am Ende ihrer Periode 2024 bereits 60 Jahre[1]. Das jüngste Mitglied war 2019 29 Jahre alt, das zweitjüngste 42. Abgesehen davon, dass die Namen und Gesichter der allermeisten EU-Kommissar:innen in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind – ein demokratiepolitisches Problem an sich – weist die Europäische Kommission somit in Hinblick auf deskriptive Repräsentation junger Menschen ein großes Defizit auf. Dies hat unter anderem mit dem komplexen Rekrutierungsverfahren ihrer Mitglieder zu tun. Auch im Rat der EU ist die Verteilung nach Altersgruppen tendenziell wohl kaum besser.

Weit deutlicher noch als im Europäischen Parlament zeigt sich das Defizit deskriptiver Repräsentation junger Menschen in der Europäischen Kommission.

Unterschiedliche Akteur:innen der Europapolitik wären in der Lage, dieses Repräsentationsproblem zu lösen. So könnten alle politischen Parteien mehr Augenmerk darauflegen, junge Kandidat:innen an wählbarer Stelle für Europawahlen aufzustellen. Im Zuge der Ernennung von Kommissionsmitgliedern durch die Regierungen der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament könnte ebenfalls eine Verjüngung angestrebt werden. Wer immer Präsident:in der Europäischen Kommission wird, hätte die Möglichkeit, bei den Vorschlägen für die weiteren Mitglieder genauer auf die deskriptive Repräsentation jüngerer Generationen zu achten. Das alles bleibt freilich in erster Linie von den Parteien/Parteifamilien und deren Spitzenpolitiker:innen abhängig. Institutionell wäre eine stärkere Repräsentation der Jugend auch durch die Aufwertung der Jugendkoordinatorin möglich. Schließlich wäre ein Jugendbeirat als Repräsentationsgremium interessant, der bei relevanten Fragen als Konsultationsgremium des Entscheidungsdreiecks (Europäisches Parlament, Europäische Kommission und Rat der EU) der EU fungieren könnte. Freilich stellen sich hier viele Fragen nach Rekrutierung, Aufgabenspektrum etc., aber das Bemühen, junge Menschen für junge Menschen sprechen zu lassen, wäre eine demokratiepolitische Verbesserung in der europäischen Entscheidungsfindung. Auch eine Art „Generationencheck“ bei Legislativvorschlägen der Europäischen Kommission wäre denkbar. Jugendvertretungsgremien könnten verschiedene Formen annehmen, darunter lokale Jugendräte, beratende Gruppen oder Jugendparlamente. Entscheidend ist, dass sie die Diversität der europäischen Jugend widerspiegeln und sich nicht auf Studierende beschränken.

Institutionell wäre eine stärkere Repräsentation der Jugend auch durch die Aufwertung der Jugendkoordinatorin möglich.

Partizipation junger Menschen in der EU

Politikwissenschaftliche Studien zeigen außerdem, dass zwischen Repräsentation und Partizipation ein Zusammenhang besteht. Vereinfacht formuliert: Gruppen, die nicht ausreichend deskriptiv und/oder substanziell repräsentiert werden, nehmen tendenziell weniger an Wahlen teil. Für die EU erklärt dies in Anbetracht der oben beschriebenen Repräsentationsdefizite teilweise, warum junge Menschen eine geringere Wahlbeteiligung aufweisen als ältere. Dies gilt auf allen Ebenen der europäischen Demokratien, von den lokalen über regionale und nationale bis hin zu supranationalen Wahlen. Dennoch feierte das Europäische Parlament 2019 einen starken Anstieg von 14 Prozentpunkten in der Wahlbeteiligung junger Menschen. So heißt es im Eurobarometer Survey 91.5 des Europäischen Parlaments auf S. 21:

Although older people remain more likely to vote, the increase between 2014 and 2019 is larger among young people aged under 25 (42%, +14 pp) and aged 25–39 (47%, +12pp), when compared with those aged 55 or over (54%, +3 pp).”

Die Freude über diesen Trend ist zwar berechtigt, kann aber nicht über die weiterhin bestehende Diskrepanz zwischen den Altersgruppen hinwegtäuschen. Auch wenn für 2024 eine weitere Stärkung der Wahlbeteiligung junger Menschen zu erwarten ist, bleibt insgesamt viel zu tun und der Anteil in manchen Ländern besorgniserregend gering. Es ist daher davor zu warnen, einen allfälligen Anstieg in der Wahlbeteiligung junger Menschen, auch wenn er im EU-Schnitt über die 50 % hinauskäme, als ausreichend zu erachten und dem Thema in der Folge weniger Aufmerksamkeit zu widmen. Besonders wichtig sind eine Differenzierung nach Mitgliedstaaten, eine genaue Analyse nach den Wahlen und das Setzen weiterer Anreize für die Beteiligung an der europäischen Zukunftsdebatte.

Auch wenn für 2024 eine weitere Stärkung der Wahlbeteiligung junger Menschen zu erwarten ist, bleibt insgesamt viel zu tun und der Anteil in manchen Ländern besorgniserregend gering.

Neben Wahlen zum Europäischen Parlament gab es in der Vergangenheit immer wieder Versuche, verschiedene Bevölkerungsgruppen in andere Formen der Beteiligung einzubinden. Für die Anliegen der Jugend wurde die Funktion einer Jugendkoordinatorin eingerichtet, die von Biliana Sirakova übernommen wurde. Ihre wichtige Tätigkeit findet allerdings eher im Bereich von Bildungsinitiativen als in der effizienten Förderung von Partizipation statt, und der Bekanntheitsgrad ist eher gering. Eine neue Eurobarometer-Studie zeigt etwa, dass nicht einmal die Hälfte der in der EU lebenden Jugendlichen die diversen Möglichkeiten der Mitbestimmung oder des Engagements kennt. Nur 46 % sind vertraut mit Europawahlen, nur 24 % mit den sozialen Netzwerken und Websites der EU. Nur 16 % sind sich der Möglichkeiten bewusst, EU-Institutionen zu besuchen und noch weniger kennen Partizipationsformen wie öffentliche Konsultationen, die Europäische Woche der Jugend oder den Jugenddialog. Dass man EU-Kommissar:innen oder Abgeordnete kontaktieren könnte, ist lediglich 10 % der Jugendlichen bekannt.

Quelle: Flash Eurobarometer 545

Die Konferenz zur Zukunft Europas, die 2019 initiiert wurde und bis 2022 dauerte, konnte ihre eigenen hochgesteckten Ziele einer breiten öffentlichen Debatte nicht erreichen. So wichtig diese Initiativen sind, sie bleiben häufig darauf angewiesen, dass sie Eingang in nationalstaatliche Öffentlichkeiten finden, was ihnen aber aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend gelingt.

Neben diesen, von den EU-Institutionen selbst entwickelten und durchgeführten Formaten gibt es auch Initiativen von unten. So wurden im Vorfeld der Europawahl 2024 verschiedene Aktivitäten, Apps etc. von jungen Europäer:innen selbständig aufgesetzt. Hier ergibt sich jedoch meist ein Gap in Hinblick auf den Bildungshintergrund. Ein Blick auf die Partizipation junger Menschen zeigt beim Interesse an Europawahlen eine Kluft zwischen jenen, die einen hohen formalen Bildungsgrad mit Matura und anschließendem Studium aufweisen und jenen, die einen Pflichtschulabschluss haben oder eine Lehre absolvierten (vgl. Gaiser et al. 2016). Was von anderen politischen Ebenen bekannt ist, verschärft sich auf europäischer Ebene somit noch einmal: Je stabiler der sozioökonomische Hintergrund und je höher der Bildungsgrad, umso eher nehmen junge Menschen an Europawahlen teil, umso eher interessieren sie sich für die EU und umso eher haben sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit auf EU-Ebene. Damit im Zusammenhang: Studierende nehmen eher an europäischen Austauschprogrammen teil als andere Gruppen, haben ein größeres Angebot an Mobilitätsmöglichkeiten etc. All dies muss in künftigen Strategien für mehr Partizipation der Jugend mitgedacht werden.

Je stabiler der sozioökonomische Hintergrund und je höher der Bildungsgrad, umso eher nehmen junge Menschen an Europawahlen teil, umso eher interessieren sie sich für die EU und umso eher haben sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit auf EU-Ebene.

Vorschläge zur Verbesserung der Partizipation junger Europäer:innen sind mannigfaltig. Hier muss das Rad nicht neu erfunden werden. Besonderes Augenmerk wäre wie erwähnt auf die Möglichkeiten jener zu richten, die nicht in akademischen Milieus agieren. Ihr Interesse und ihre Wahlbeteiligung können durch den Ausbau bestehender Bildungs- oder Mobilitätsangebote wie Erasmus+ und deren bessere Bewerbung gestärkt werden. Eine Einbeziehung der Sozial- und Jugendarbeit würde sich anbieten, da diese im nichtschulischen Kontext Jugendliche erreichen kann, die Schule und Staat, aus welchen Gründen auch immer, weniger Vertrauen entgegenbringen. Jede/r europäische Schüler:in und jeder europäische Lehrling sollte einmal in Brüssel gewesen sein und die europäischen Institutionen besucht haben. Die Europabildung ist nach wie vor sehr unterschiedlich ausgeprägt. Je nachdem, in welchem Land jemand welchen Schultyp besucht oder eine Lehre absolviert, wird er/sie mehr oder weniger bis gar keine Informationen über die EU erhalten. Das Angebot durch innovative Lehrkonzepte wie Workshops, Planspiele, Exkursionen, Diskussionen mit Abgeordneten, Schüler:innen-Austausch usw. auszubauen wäre eine dringende Aufgabe der Bildungssysteme.

Eine größere, aber wichtige Innovation bestünde in der Angleichung des Wahlalters in Europa. Dies jedoch würde eine größere Überarbeitung der EU-Verträge und nationaler Verfassungen erfordern und ist daher derzeit nicht realistisch. Dennoch: Alle Europäer:innen sollten aus Gleichheitsgründen ab dem gleichen Alter wählen können. Und auch der Zugang für jene, die über keine Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes verfügen, aber mehrere Jahre legal in der EU leben, sollte erleichtert werden.

Eine größere, aber wichtige Innovation bestünde in der Angleichung des Wahlalters in Europa.

Sowohl rechtlich als auch politisch einfacher zu realisieren wären Prozesse der Jugendbeteiligung, bei denen über anstehende Zukunftsthemen verhandelt wird.

Europa-Erfahrungen und Europa-Bildung verbessern

Neben den Defiziten der Repräsentation und der Partizipation junger Menschen in der EU gibt es nach wie vor auch Defizite in den Europa-Erfahrungen und der Europa-Bildung. Unter Europa-Erfahrungen seien hier Erlebnisse und Aktivitäten verstanden, die mit den Institutionen der EU (etwa die Besuche von Institutionen oder Gespräche mit Abgeordneten) zu tun haben oder mit der europäischen Idee im weiteren Sinne. Darunter können Austauschprogramme wie Erasmus+, aber auch die Teilnahme an Veranstaltungen, das Studieren oder Arbeiten in einem anderen EU-Land subsumiert werden. Die schon zitierte Eurobarometer-Studie zeigt, dass nur 16 % im EU-Ausland studiert oder dort ein Training oder Praktikum absolviert haben. In Sport- oder Kulturveranstaltungen in anderen EU-Ländern waren ebenfalls 16 % involviert, 12 % haben in einem anderen EU-Land gearbeitet (European Commission 2024).

Zwar ist nicht davon auszugehen, dass diese Werte in anderen Alters-Kohorten höher wären, aber nach den vielen Jahren des europäischen Einigungsprozesses und in Anbetracht der oben genannten Defizite in Repräsentation und Partizipation junger Menschen in der EU, wäre es wichtig, noch intensiver an Verbesserungen zu arbeiten. Die Europa-Erfahrungen sind insgesamt ausbaufähig, insbesondere aber für jene, die nicht in einem schulischen Kontext oder während ihres Studiums die Möglichkeit haben, solche zu sammeln. Ähnliches gilt für das EU-Wissen und die dazugehörigen Kompetenzen einer demokratischen und europäischen Kultur. Hier wäre ein Ausbau der Bildung über Europa schon in der Unterstufe wichtig (vgl. Website Europakompass), ebenso wie eine stärkere Berücksichtigung in den Curricula von auszubildenden Lehrkräften.

****************************

Foto: © European Union, 2024, EP

[1] Die Daten und Zahlen wurden für diesen Beitrag recherchiert und berechnet, und zwar über Angaben zu den Kommissionsmitgliedern auf der Website der Europäischen Kommission sowie den Geburtsdaten auf Wikipedia.

Angelucci, D., Carrieri, L. & Improta, M. (2024). ‘No Participation Without Representation’: The Impact of Descriptive and Substantive Representation on the Age-Related Turnout Gap. Political Studies, 00323217241229316.

Bühlmann, M., Merkel, W., Müller, L., Giebler, H. & Weβels, B. (2012). Demokratiebarometer: ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität. Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft6, 115-159.

Curtice, J. (2016). Brexit: Behind the referendum. Political Insight7(2), 4-7.

European Commission (2024). Flash-Eurobarometer 545 – Youth and democracy report.

European Parliament (2019). Facts and figures: The European Parliament’s new term, https://www.europarl.europa.eu/pdfs/news/expert/2019/7/story/20190705STO56305/20190705STO56305_en.pdf

Follesdal, A. & Hix, S. (2006). Why there is a democratic deficit in the EU: A response to Majone and Moravcsik. JCMS: Journal of Common Market Studies44(3), 533-562.

Gaiser, W., Krüger, W., De Rijke, J. & Wächter, F. (2016). Jugend und politische Partizipation in Deutschland und Europa. Politische Beteiligung junger Menschen: Grundlagen – Perspektiven – Fallstudien, 13-38.

Inter-Parliamentary Union (2023). Youth participation in national parliaments: 2023, Inter-Parliamentary Union, Geneva.

Liargovas, P. & Papageorgiou, C. (2024). The Perception of “Democratic Deficit” in the European Union. In The European Integration, Vol. 2: Institutions and Policies (pp. 159-184). Cham: Springer Nature Switzerland.

Koos, S. & Naumann, E. (2019). Vom Klimastreik zur Klimapolitik: Die gesellschaftliche Unterstützung der „Fridays for Future“-Bewegung und ihrer Ziele: Forschungsbericht.

Pitkin, H. F. (2023) [1969]. The concept of representation. Univ of California Press.

Rentrop, R. (2024). Der Bundestag wird jünger – Werden junge Menschen damit besser repräsentiert?.

Schmidt, M. G. (2022). Auf dem Weg in die „Rentner-Demokratie “?. In Altern: Biologie und Chancen: Alter und Altern individuell, kollektiv und die Folgen (pp. 217-230). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Stockemer, D. & Sundstrom, A. (2022). Youth without representation: The absence of young adults in parliaments, cabinets, and candidacies (p. 207). University of Michigan Press.

Streeck, W. (2007). Politik in einer alternden Gesellschaft: vom Generationenvertrag zum Generationenkonflikt? (pp. 279-304). Beck.

Volskiy, O. M. (2023). The problem of the democracy deficit in the EU: between the political entity and the market utopia.

Website Eurostat (2023). Demographie, Bevölkerungsbestand und -bilanz, abgerufen am 28.05.2024 unter:  https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/population-demography/demography-population-stock-balance

Eventuell weiterführende, aber im Text nicht zitierte Links:

A-comparative-analysis-on-National-Youth-Policies-Full-Layout.pdf (youthdemocracycohort.com)

oahvcouzothbhtkjn78brofppnds (archive-it.org)

The EU Commission appoints first European Youth Coordinator – OCTA (overseas-association.eu)

Biliana Sirakova | European Education Area (europa.eu)

imfname_11361297.pdf (parlament.gv.at)

European Youth Parliament: Ghent 2024 International Forum (europa.eu)

„Jahr der Jugend“ der EU-Kommission bleibt hinter Erwartungen zurück – Euractiv DE

EU-Jugendstrategie | European Youth Portal (europa.eu)

Website Europakompass: Europa in der Kinder- & Jugendbildung – Europa-Kompass (europakompass.eu)

en-post-election-survey-2019-report.pdf (europa.eu)

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Demokratie, Jugend, Partizipation, Repräsentation, EU

Zitation

Pausch, M. (2024). Eine jüngere Demokratie? Zur Repräsentation und Partizipation Jugendlicher in der EU. Wien. ÖGfE Policy Brief, 03’2024

Prof. (FH) Dr. Markus Pausch

Prof. (FH) Dr. Markus Pausch ist Professor am Department für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Salzburg. Er beschäftigt sich u. a. mit Demokratie-Entwicklung, demokratischen Innovationen und der Zukunft der Europäischen Union. Aktuelle Publikation als Hrsg.: Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges, Nomos-Verlag 2020; www.fh-salzburg.ac.at; www.markuspausch.eu