Die EU ist stärker, als wir glauben (Gastkommentar Die Presse)

Fünf Dinge, die Ursula von der Leyen morgen in ihrer Rede unbedingt erwähnen sollte.

Am morgigen Mittwoch hält EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im EU-Parlament ihre jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union. Alles andere als eine Pflichtübung, denn selten zuvor hat sich die EU in einem ähnlich herausfordernden Umfeld befunden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Klimakrise, die Sicherung unserer Lebensqualität, der Umgang mit Asyl und Migration und schließlich als allumfassende Klammer die Frage, wie sich Europa weltweit behaupten kann, sind die drängendsten Themen. Die Dynamik, die auf die europäische Integration wirkt, ist enorm und verlangt Weitblick, klare Antworten und Mut in der Umsetzung.

Vor den Europawahlen im nächsten Jahr wäre es der richtige Zeitpunkt, Linie vorzugeben und den Menschen Orientierung zu bieten. Von der Leyen sollte diese Chance nützen und klar machen, warum es gerade jetzt eine starke, solidarische Union braucht. Folgende fünf Eckpunkte könnte sie dabei jedenfalls erwähnen:

→ Inmitten einer neuen Weltordnung muss die EU vehementer ihre Interessen vertreten. Verringerung von Abhängigkeiten und Diversifizierung sind die Wegmarken zur strategischen Unabhängigkeit; die Intensivierung der Handelspartnerschaften ein Schritt in genau diese Richtung. Wenn Russland und China neue Allianzen schmieden, ist die EU gefordert, die Vorzüge von Demokratie, einer regelbasierten Weltordnung und multinationaler Zusammenarbeit auf Augenhöhe sichtbar zu machen.
→ Europas Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Die Union muss in die Entwicklung unseres freien und liberalen Gesellschaftsmodells investieren. Dazu gehört eine EU, die auf sozialen Ausgleich abzielt, ebenso wie eine Gemeinschaft, die ihre eigene Verteidigungsfähigkeit stärkt und die Ukraine in ihrem Kampf um ihre Souveränität so lang wie nötig unterstützt. Eine EU, die klar Stellung bezieht, ob, wann und wie sie sich erweitert und der Bevölkerung vermittelt, warum all dies auch in ihrem ureigenen Interesse liegt.
→ Dazu gehört letztlich auch, die EU mit ihrer 50.000 Kilometer langen Außengrenze nicht zu einer Festung zu machen. Einwanderung muss besser gesteuert werden und EU-weiten Regeln unterliegen. Europa ist jedoch auf Zuzug angewiesen, allein um die Betriebe am Laufen zu halten und Sozial- und Pensionssysteme zu sichern. Und wer vor Krieg und Verfolgung flüchtet, wird stets ein faires Asylverfahren erhalten. Kein Mitgliedsland kann sich bei der Wahrung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit aus der Verantwortung stehlen.
→ Dasselbe gilt für den Kampf gegen den Klimawandel: Ja, die europäische Klimapolitik ist ambitioniert und der grüne Wandel bringt Veränderung. Er ist aber auch die Basis für Lebensqualität, für gesundes Wachstum, neue Jobs und die Positionierung der Union als technologischer und digitaler Vorreiter.
→ Sich selbst klein zu halten, dient nicht der Welt, hat Nelson Mandela gesagt. Zusammen ist die EU, sind wir, wesentlich stärker, als wir glauben. Jetzt wäre es an der Zeit, diese großen Vorhaben auch umzusetzen. Einigkeit ist dabei Trumpf: Nur gemeinsam wird die EU auf dieser Welt einen Unterschied machen. Ein vielfältiges und zugleich geeintes Europa ist der Gegenpol zu Unterdrückung und Autoritarismus. Die kommenden Europawahlen wären eine gute Gelegenheit, ein starkes demokratiepolitisches Zeichen zu setzen.

Das ist es, was Ursula von der Leyen in ihrer Rede sagen sollte, um sich gleich mit einem mutigen Programm als Spitzenkandidatin für eine zweite Amtsperiode als Kommissionspräsidentin zu bewerben.